Litauen: Umweltbelastungen durch Militarisierung
von Olga Karach – Our House (Belarussian human rights organization in exile – ndbelarus.com)
Quelle des vollständigen Berichts in englisch: https://ndbelarus.com/2025/11/21/transboundary-river-security-risks-in-the-viliya-neris-basin-under-rising-region-militarization/
Die Wilija–Neris ist eines der letzten weitgehend intakten Flussökosysteme im baltischen Raum – eine Lebensader für Lachse, Otter, Auenwälder und ein bedeutender Zufluss zur ohnehin stark belasteten Ostsee. Doch die neue militarisierte politische Realität zerstört dieses Ökosystem in alarmierender Geschwindigkeit: durch das störanfällige belarussische Kernkraftwerk, Pläne für ein Endlager für radioaktive Abfälle und die schrittweise Umwandlung des Flusses in einen Korridor für militärische Mobilität und Evakuierung. Was öffentlich als „Sicherheitsmaßnahme“ bezeichnet wird, ist in Wahrheit geopolitisch motivierte Umweltzerstörung, für die Belarus und Litauen gleichermaßen Verantwortung tragen – und die das gesamte Ostseebecken bedroht.
Sie ist ein verbundenes Ökosystem, das genau jene Staaten miteinander verknüpft, die heute politisch und militärisch im Konflikt stehen: Belarus, Litauen und – über den Nemunas (Memel) und die Ostsee – auch Russland. Ein ökologisch unteilbares System durchquert eine politisch stark fragmentierte Region. Allein das sollte Grund genug sein, den Fluss als gemeinsame ökologische Verantwortung zu verstehen. Doch die neue militarisierte Realität bewirkt das Gegenteil: Die Wilija–Neris wird innerhalb der Logik nationaler Abschreckung und Sicherheit zu einem technischen Objekt umdefiniert.
Ökologisch ist dieser Fluss ein seltener Rückzugsraum.
Mit ihrer Länge von 510 Kilometern und einem Einzugsgebiet von etwa 25.000 km² verbindet die Wilija ihre Quellgebiete in Belarus mit den litauischen Auenwäldern und schließlich mit dem Nemunas und der Ostsee. Das Neris-Tal ist Teil des Natura-2000-Netzwerks, das Feuchtgebiete, Flussschleifen und mehr als 30 streng geschützte Arten bewahrt. Der Fluss ist einer der letzten funktionierenden Wanderkorridore für Ostseelachse und Meerforellen; viele historische Routen wurden durch Staudämme blockiert, doch natürliche Laichgebiete sind hier noch vorhanden.
Heute befindet sich dieses Ökosystem an der Schnittstelle dreier gefährlicher politischer Eingriffe:
• Nutzung des Flusses als Kühl- und Prozesswasser für das Kernkraftwerk Ostrowez
• Pläne für ein Endlager für radioaktive Abfälle im Einzugsgebiet des Flusses
• zunehmende Militarisierung der Neris in Litauen – ihre Einstufung als Infrastruktur für militärische Mobilität und mögliche Evakuierungsrouten
Das Kernkraftwerk Ostrowez
Nur 50 km von Vilnius entfernt, weist es eine lange Liste dokumentierter Zwischenfälle zwischen 2016 und 2025 auf: Schäden an tragenden Strukturen, Fallenlassen des Reaktordruckbehälters, Kollisionen, Explosionen von Transformatoren und wiederholte Notabschaltungen. Zentrale europäische Sicherheitsanforderungen wurden bislang nur teilweise umgesetzt. In jedem Störfallszenario wäre die Wilija das erste Medium, das potenziell kontaminiert würde – und Schadstoffe nach Litauen, in den Nemunas und letztlich in die Ostsee transportieren würde.
Pläne für ein Endlager für radioaktive Abfälle im Raum Ostrowez
Belarussische Behörden haben drei potenzielle Standorte untersucht, wobei dem Bezirk Ostrowez – direkt im Einzugsgebiet der Wilija – Priorität eingeräumt wurde. Die hydrogeologischen Bedingungen machen im Fall eines Lecks eine Migration von Radionukliden nahezu unausweichlich. Dies schafft ein langfristiges, generationenübergreifendes Risiko.
Militarisierung in Litauen
Seit 2024 wurden Brücken entlang der Neris für schwere NATO-Transporte verstärkt. EU-Mittel finanzieren weitere Brückenprojekte. Am beunruhigendsten sind die Pläne, den Fluss schiffbar zu machen – durch Ausbaggerung und Entfernung natürlicher Stromschnellen –, und das mitten in einem streng geschützten Natura-2000-Gebiet. Solche Eingriffe würden die Morphologie des Flusses zerstören, Laichgebiete vernichten, Sedimentströme stören und die ökologische Kontinuität brechen.
Diese drei Risikofaktoren verstärken sich gegenseitig.
Die Wilija–Neris wird zu einem Schnittpunkt von Nuklearenergie, radioaktiver Abfallwirtschaft und militärischer Mobilität – und damit zu einer Zone grenzüberschreitender Verwundbarkeit, die keine nationale Gesetzgebung allein bewältigen kann.
Die Ostsee, der Endpunkt des Flusssystems, ist eines der empfindlichsten Meeresökosysteme der Welt: belastet durch Eutrophierung, versenkte Munition, industrielle Verschmutzung, Klimawandel und sedimentierte Giftstoffe. Als nahezu geschlossenes Meer besitzt sie kaum Pufferkapazität für zusätzliche Belastungen. Jede ökologische Verschlechterung im Einzugsgebiet der Wilija–Neris wirkt sich direkt auf das gesamte Ökosystem der Ostsee aus.
Die neue militarisierte Realität verdrängt ökologische Verantwortung.
Der Fluss wird nicht mehr als gemeinsames Naturerbe betrachtet, sondern als Ressource innerhalb geopolitischer Konkurrenz. Natura-2000-Verpflichtungen werden geschwächt; ein Ökosystem, das als Modell für grenzüberschreitende Zusammenarbeit dienen könnte, wird zu einem Instrument sicherheitspolitischer Instrumentalisierung.
Heute ist die Wilija–Neris ein zentraler Punkt, an dem Umwelt-, Friedens- und regionale Sicherheitsfragen zusammenlaufen. Ihr Schutz macht die Dringlichkeit einer sofortigen internationalen Reaktion unübersehbar.
Ich möchte mit euch unseren neuen Monitoring-Bericht über die zunehmenden Bedrohungen für die Wilija–Neris teilen – ein einzigartiges grenzüberschreitendes Ökosystem, das nun durch nukleare Risiken, Militarisierung und den politischen Missbrauch von „nationalen Sicherheitsargumenten“ gefährdet ist.
