Die längerfristigen Auswirkungen eines Atomkrieges
Gegen einen nuklearen Schlagabtausch würde es keinen Schutz geben. Die meisten Menschen würden durch die Atomexplosionen oder deren Folgen sterben. Welche Szenarien Wissenschaftler skizzieren
von
(19.3.2023)Deutsche Übersetzung von: Nowhere to hide – How a nuclear war would kill you — and almost everyone else.
von François Diaz-Maurin
Quelle: https://www.telepolis.de/features/Nowhere-to-hide-Die-laengerfristigen-Auswirkungen-eines-Atomkriegs-7546580.html
Auszüge:
Inhalt
Rußeintrag in die Stratosphäre
Die Hitze und die Druckwelle einer thermonuklearen Explosion sind so stark, dass sie sowohl in städtischen als auch in ländlichen Gebieten große Brände auslösen können. Eine 300-Kilotonnen-Detonation in einer Stadt wie New York oder Washington DC könnte einen Feuersturm mit einem Radius von mindestens 5,6 Kilometern verursachen, der durch keine Wetterbedingungen zu beeinflussen ist. Luft in diesem Bereich würde sich in Staub, Feuer und Rauch verwandeln.
Aber ein Atomkrieg wird nicht nur eine Stadt in Brand setzen, sondern Hunderte von ihnen, fast gleichzeitig. Selbst ein regionaler Atomkrieg – etwa zwischen Indien und Pakistan – könnte zu weit verbreiteten Feuerstürmen in Städten und Industriegebieten führen, die das Potenzial haben, einen globalen Klimawandel zu verursachen und jede Form des Lebens auf der Erde für Jahrzehnte zu zerstören.
Rauch von Feuerstürmen nach einem Atomkrieg könnte massive Mengen Ruß in die Stratosphäre, die obere Atmosphäre der Erde, einbringen. Ein totaler Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan zum Beispiel, bei dem beide Länder insgesamt 100 Atomsprengköpfe mit einer durchschnittlichen Sprengkraft von 15 Kilotonnen abfeuern würden, könnte eine stratosphärische Belastung von etwa fünf Millionen Tonnen (oder Teragramm, Tg) Ruß erzeugen. Hier geht es um eine Masse in der Größenordnung der Pyramide von Gizeh, die pulverisiert und in überhitzten Staub verwandelt wird.
Aber diese unteren Schätzungen stammen aus den späten 2000er Jahren. Seitdem haben Indien und Pakistan ihre Atomwaffenarsenale erheblich erweitert, sowohl in Bezug auf die Anzahl der nuklearen Sprengköpfe als auch auf die Sprengkraft. Bis 2025 könnten Indien und Pakistan jeweils bis zu 250 Atomwaffen besitzen, mit einer Sprengkraft von 12 Kilotonnen bis zu einigen hundert Kilotonnen. Ein Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan mit solchen Arsenalen könnte bis zu 47 Tg Ruß in die Stratosphäre schicken.
Zum Vergleich: Die jüngsten katastrophalen Waldbrände in Kanada im Jahr 2017 und Australien in den Jahren 2019 und 2020 erzeugten 0,3 Tg bzw. ein Tg Rauch. Die chemische Analyse zeigte jedoch, dass nur ein kleiner Prozentsatz des Rauchs dieser Brände reiner Ruß war – 0,006 bzw. 0,02 Tg. Das liegt daran, dass nur Holz brannte.
Städtische Brände nach einem Atomkrieg würden mehr Rauch erzeugen, und ein höherer Anteil davon wäre Ruß. Aber diese beiden Episoden massiver Waldbrände zeigen auch, dass, wenn Rauch in die untere Stratosphäre befördert wird, er durch das Sonnenlicht erhitzt und in große Höhen – 10 bis 20 Kilometer – aufsteigen wird. Dadurch wird die Zeit verlängert, die er in der Stratosphäre verbleibt.
Genau dieser Mechanismus ermöglicht es Wissenschaftlern nun, die langfristigen Auswirkungen eines Atomkriegs besser zu verstehen. Mit ihren Modellen konnten die Forscher den Rauch dieser großen Waldbrände genau simulieren und die Mechanismen, die den Nuklearen Winter verursachen, weiter untersuchen.
Die klimatischen Reaktionen auf Vulkanausbrüche sind ebenfalls zusätzlich eine Grundlage für das Verstehen der langfristigen Auswirkungen eines Atomkriegs.
Vulkanische Explosionen befördern typischerweise große Mengen an Asche und Staub in die Stratosphäre, wo sie das Sonnenlicht zurück in den Weltraum reflektieren, was zu einer vorübergehenden Abkühlung der Erdoberfläche führt.
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Veränderungen in der Atmosphäre
Nachdem Ruß in die obere Atmosphäre aufgestiegen ist, kann er dort für Monate bis Jahre bleiben und verhindern, dass direktes Sonnenlicht die Erdoberfläche erreicht und die Temperaturen sinken. In großen Höhen – 20 Kilometer und mehr in der Nähe des Äquators und 7 Kilometer an den Polen – würde der von nuklearen Feuerstürmen eingebrachte Rauch auch mehr Strahlung von der Sonne absorbieren, die Stratosphäre erwärmen und die stratosphärische Zirkulation stören.
In der Stratosphäre würde das Vorhandensein von stark absorbierenden Rußaerosolen zu erheblich erhöhten stratosphärischen Temperaturen führen. Zum Beispiel würden in einem regionalen Atomkriegsszenario, das zu einer 5-Tg-Eintrag von Ruß führt, die stratosphärischen Temperaturen nach vier Jahren um 30 Grad Celsius erhöht bleiben.
Die extreme Erwärmung der Stratosphäre in den ersten Jahren nach einem Atomkrieg würde den Verlust eines großen Teils der globalen Ozonschicht bedeuten, die Menschen und andere Lebewesen auf der Erde vor den schweren gesundheitlichen und ökologischen Auswirkungen ultravioletter Strahlung schützt.
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Veränderungen an Land
Die Beförderung von großen Mengen Ruß in die Stratosphäre führt zu Veränderungen auf der Erdoberfläche, indem dadurch die Menge der Sonneneinstrahlung, die Lufttemperatur und der Niederschlag stark beeinträchtigt wird.
Der Verlust der schützenden Ozonschicht der Erde würde zu mehreren Jahren mit extrem ultravioletten (UV) Licht an der Oberfläche der Erde führen – eine Gefahr für die menschliche Gesundheit und die Nahrungsmittelproduktion.
Jüngste Schätzungen deuten darauf hin, dass der Ozonverlust nach einem globalen Atomkrieg zu einem tropischen UV-Index von über 35 führen würde, der drei Jahre nach dem Krieg beginnt und vier Jahre anhält. Die US-Umweltschutzbehörde hält einen UV-Index von 11 für eine „extreme“ Gefahr: 15 Minuten Exposition gegenüber einem UV-Index von 12 führt zu einem Sonnenbrand bei ungeschützter menschlicher Haut.
Weltweit würde das durchschnittliche Sonnenlicht im UV-B-Bereich um 20 Prozent zunehmen. Es ist bekannt, dass hohe UV-B-Strahlung Sonnenbrand, Lichtalterung, Hautkrebs und Katarakte beim Menschen verursachen. UV-B-Strahlung hemmt auch die Photolysereaktion, die für die Blätter- und das Pflanzenwachstum erforderlich ist.
Rauch, der in die Stratosphäre aufsteigt, würde die Menge an Sonnenstrahlung reduzieren, die an die Erdoberfläche gelangt, und die globalen Oberflächentemperaturen und Niederschläge dramatisch reduzieren.
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Veränderungen im Ozean
Die am längsten anhaltenden Folgen eines Atomkriegs würden die Ozeane betreffen.
Unabhängig vom Ort und Ausmaß eines Atomkriegs würde der Rauch der daraus resultierenden Feuerstürme schnell die Stratosphäre erreichen und global verteilt werden, wo er Sonnenlicht absorbieren und die Sonnenstrahlung auf die Meeresoberfläche reduzieren würde.
Die Meeresoberfläche würde aufgrund ihrer höheren spezifischen Wärmekapazität (d. h., der Wärmemenge, die benötigt wird, um die Temperatur pro Masseneinheit zu erhöhen) langsamer auf Strahlungsänderungen reagieren als die Atmosphäre und das Land.
Der globale Rückgang der Meerestemperatur würde drei bis vier Jahre nach einem Atomkrieg am stärksten sein und um etwa 3,5 Grad Celsius bei einem indisch-pakistanischen Krieg sinken, bei dem 47 Tg Russ in die Stratosphäre eingebracht würde, und um etwa sechs Grad Celsius bei einem globalen Krieges zwischen den USA und Russland (mit 150 Tg Ruß).
Einmal abgekühlt, wird der Ozean lange Zeit brauchen, um zu seinen Vorkriegstemperaturen zurückzukehren, selbst wenn der Ruß aus der Stratosphäre verschwunden ist und die Sonneneinstrahlung wieder auf ein normales Niveau zurückkehrt. Der Temperaturabfall und die Dauer der Änderungen würden linear mit der Wassertiefe zunehmen.
Ungewöhnlich niedrige Temperaturen werden wahrscheinlich jahrzehntelang in der Nähe der Meeresoberfläche und Hunderte von Jahren oder länger in der Tiefe anhalten. Für einen globalen Atomkrieg werden Änderungen der Meerestemperatur mit Ausdehnung des arktischen Meereises wahrscheinlich Tausende von Jahren dauern – so lange, sodass Forscher von einer „nuklearen Kleinen Eiszeit“ sprechen.
Auswirkungen auf die Nahrungsmittelproduktion
Veränderungen der Atmosphäre, der Landoberfläche und der Ozeane nach einem Atomkrieg werden massive und langfristige Auswirkungen auf die globale landwirtschaftliche Produktion und die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln haben.
Die Landwirtschaft reagiert auf die Länge der Vegetationsperioden, die Temperatur während der Vegetationsperiode, Lichtverhältnisse, Niederschlag und andere Faktoren. Ein Atomkrieg würde all diese Faktoren auf globaler Ebene für Jahre bis Jahrzehnte erheblich verändern.
Mit neuen Klima-, Ernte- und Fischereimodellen haben Forscher nun gezeigt, dass Rußeintrag in die Atmosphäre von mehr als 5 Tg in fast allen Ländern zu einer ausgeprägten Nahrungsmittelknappheit führen würden, obwohl einige Regionen stärker von Hungersnöten bedroht sind als andere.
Weltweit wären die Produktion von tierischen Nahrungsmitteln und die Fischerei nicht in der Lage, den Rückgang der pflanzlichen Produktion auszugleichen.
Nach einem Atomkrieg, und nachdem die gespeicherten Lebensmittel konsumiert worden sind, würde die Gesamtzahl der verfügbaren Nahrungskalorien in jedem Land dramatisch sinken, wodurch Millionen von Menschen dem Risiko des Hungers oder der Unterernährung ausgesetzt sind.
Maßnahmen, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, wie etwa Veränderungen bei Produktion und Verbrauch von Tierfutter und Getreide, würden nicht ausreichen, um den globalen Verlust an verfügbaren Kalorien zu kompensieren.
Die oben genannten Auswirkungen auf die Nahrungsmittelproduktion berücksichtigen nicht die langfristigen direkten Auswirkungen der Radioaktivität auf den Menschen oder die weit verbreitete radioaktive Kontamination von Lebensmitteln, die auf einen Atomkrieg folgen könnte.
Der internationale Handel mit Nahrungsmitteln könnte stark eingeschränkt oder gestoppt werden, da die Länder inländische Lieferungen horten. Aber selbst unter der Annahme eines altruistischen Verhaltens von Ländern, deren Nahrungsmittelsysteme weniger stark betroffen sind, könnte der Handel durch einen anderen Effekt des Krieges gestört werden, nämlich durch Meereis.
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