Wasserstoff für Deutschland
Quelle: German Foreign Policy – Teil 1: 29.10.2024 | Teil 2: 8.11.2024
Teil 1
Berlin setzt zur Versorgung Deutschlands mit grünem Wasserstoff stark auf Importe. Experten stufen Nordafrika und Mittelost als Schlüsselregion ein. Qatar, dessen Emir vergangene Woche Berlin besuchte, gilt als möglicher Lieferant.
Das Emirat Qatar zieht einen Einstieg in die Lieferung grünen Wasserstoffs in die Bundesrepublik in Betracht. Das berichten Quellen aus Doha anlässlich des Besuchs des Emirs von Qatar in Berlin am vergangenen Dienstag. Während in der allgemeinen Wahrnehmung vor allem der Export von Flüssiggas aus Qatar nach Deutschland registriert wird, plant das Emirat den Einstieg in die Produktion von grünem Wasserstoff, den es, wie es heißt, auch in die Bundesrepublik verkaufen könne. Die Bundesregierung setzt, wie aus ihrer offiziellen, im Jahr 2023 aktualisierten Wasserstoffstrategie hervorgeht, darauf, langfristig 50 bis 70 Prozent des in Deutschland benötigten grünen Wasserstoffs zu importieren. Die für das eigene Land geplanten Elektrolysekapazitäten von zehn Gigawatt (GW) im Jahr 2030 reichen nicht aus, um den prognostizierten Bedarf auch nur ansatzweise zu decken, heißt es. Die deutsche Initiative Dii Desert Energy, die Optionen zum Import grünen Wasserstoffs eruiert, stuft den Nahen und Mittleren Osten sowie Nordafrika („MENA-Region“) als Schlüsselregion für die Herstellung grünen Wasserstoffs ein. Einer der potenziellen Lieferanten ist Qatar.
Grüner Wasserstoff
Der sogenannte grüne Wasserstoff, der durch Elektrolyse von Wasser mit Hilfe von Strom aus erneuerbaren Energien gewonnen wird, wird als Schlüsseltechnologie für die Energiewende gehandelt. Er verursacht keine CO₂-Emissionen und könnte in Industrie und Transportsektor fossile Energieträger ersetzen. Allerdings ist die Produktion von grünem Wasserstoff derzeit noch teuer und wenig effizient, da Elektrolyseure große Mengen an Energie benötigen und Wirkungsgrade von nur 60 bis 80 Prozent erreichen. Weitere Herausforderungen betreffen die Speicherung und den Transport, da Wasserstoff als leichtes, flüchtiges Gas besondere Infrastrukturen erfordert. Moderne Technologien wie die Hochtemperaturelektrolyse oder die Speicherung von Wasserstoff durch seine Umwandlung in Ammoniak sollen diese Hürden abbauen und die Effizienz und die Handhabung verbessern. Durch Innovationen in Katalysatoren könnten der Energiebedarf und die Kosten gesenkt werden. Deutsche Unternehmen, allen voran Siemens, Linde und ThyssenKrupp, sind intensiv in die Entwicklung dieser Technologien eingebunden, um die Bundesrepublik als globalen Akteur in der Wasserstoffwirtschaft zu positionieren.
Die deutsche Wasserstoffstrategie
Für den Ausbau der Wasserstoffwirtschaft politisch richtungsweisend ist die Nationale Wasserstoffstrategie, die die Bundesregierung ursprünglich 2020 veröffentlichte. Die aktuelle Fortschreibung des Dokuments vom Juli 2023 bringt mehrere wichtige Neuerungen mit sich. Sie betreffen beispielsweise die Verdoppelung der geplanten Elektrolysekapazitäten von fünf Gigawatt (GW) auf zehn GW bis zum Jahr 2030, um der steigenden Nachfrage nach Wasserstoff gerecht zu werden. Dies soll 30, vielleicht sogar 50 Prozent des nationalen Bedarfs decken.[1] Zusätzlich wird die Importstrategie stärker betont: 50, vermutlich sogar bis zu 70 Prozent des Wasserstoffbedarfs sollen durch Importe gedeckt werden, um eine Gesamtmenge von 95 bis 130 Terawattstunden (TWh) Wasserstoff pro Jahr sicherzustellen.[2] Hierbei liegt der Fokus auf einer Diversifizierung der Lieferquellen, um neue Abhängigkeiten zu vermeiden. Die Umstellung von Industrie und Transport auf Wasserstoff soll zudem bereits vor der vollständigen Verfügbarkeit von grünem Wasserstoff beginnen, um Lock-in-Effekte mit fossilen Energieträgern zu verhindern.[3] Diese strategischen Anpassungen sollen Deutschland langfristig zum Leitmarkt für Wasserstofftechnologien machen und die Dekarbonisierung in Schlüsselindustrien wie Stahl und Chemie vorantreiben.
Die Wasserstoffstrategie der EU
Die Wasserstoffstrategie der EU, die Brüssel im Juli 2020 verabschiedet hat, plant bis 2030 den Aufbau von 40 GW Elektrolysekapazitäten und die Produktion von zehn Millionen Tonnen Wasserstoff.[4] Dabei geht der Aufbau der entsprechenden Kapazitäten mit Differenzen zwischen den EU-Mitgliedstaaten einher. Während Deutschland primär die Nutzung grünen Wasserstoffs anstrebt, plädiert die EU für die Akzeptanz von CO₂-armem Wasserstoff als Übergangslösung – denn diverse Mitgliedstaaten fokussieren vorerst auf blauen Wasserstoff, der aus Erdgas hergestellt wird, allerdings unter der Maßgabe, dass das anfallende CO₂ unmittelbar genutzt oder gespeichert wird. Im vergangenen Jahr konnte Frankreich durchsetzen, dass mit Atomstrom produzierter Wasserstoff als grüner Wasserstoff eingestuft wird; dies hatte der deutsche EU-Abgeordnete Markus Pieper (CDU) vergeblich zu verhindern versucht.[5] Ein EU-weites Wasserstoff-Kernnetz auf der Basis bestehender Erdgasleitungen soll langfristig den Transport des Wasserstoffs sichern. So strebt beispielsweise ein Projekt zur Dekarbonisierung der Industrie in Südbaden die Lieferung von grünem Wasserstoff aus Frankreich an.[6] Geplant ist etwa auch der Bau einer Pipeline aus Dänemark nach Deutschland; allerdings verzögert er sich um drei Jahre: Er soll, statt wie ursprünglich geplant im Jahr 2028, nun erst 2031 starten – aufgrund zusätzlicher Umwelt- und Sicherheitsprüfungen.[7]
Neokoloniale Abhängigkeit
Den Import grünen Wasserstoffs in die EU nimmt gegenwärtig unter anderem die Initiative Dii Desert Energy in den Blick. Entstanden ist sie aus Desertec, einem im Jahr 2009 gegründeten ambitionierten Projekt, das zum Ziel hatte, Wind- und Sonnenenergie in Nordafrika zu erzeugen und mittels Unterseekabeln nach Europa zu exportieren. Trotz geplanter Investitionen in Höhe von 400 Milliarden Euro scheiterte das Vorhaben letztlich.[8] Widerstände entstanden unter anderem, da die Länder Nordafrikas unter eigener Stromknappheit litten und zudem eine neokoloniale Abhängigkeit von Europa befürchteten. Desertec schrumpfte letztlich zu der kleineren Dienstleistungsfirma Dii – während der Gedanke, in Nordafrika erneuerbare Energien zu nutzen, um sie in Deutschland verbrauchen zu können, in dem Plan wieder auftaucht, mit diesen Energien grünen Wasserstoff zu produzieren und ihn nach Deutschland zu transportieren. Die Dii hat sich dahingehend neu positioniert und führt mit über 110 Partnern Studien und Kooperationen zu erneuerbaren Energien und Wasserstoffprojekten durch. Offiziell schwört sie dabei neokolonialem Gehabe ab. „Mit einer belehrenden Art kommen wir [in Nordafrika, d. Red.] nicht weiter“, erläutert ihr Chef Cornelius Matthes; man sei sich „sehr bewusst, dass es nicht funktioniert, wenn wir Europäer in ein Land kommen und sagen, so und so hat das zu laufen“.[9] Man trete nun „bescheidener auf“ und wolle „auf die Wünsche der Partnerländer eingehen, gerade auch was lokale Wertschöpfung angeht“.
Schlüsselregion Nordafrika/Mittelost
Auf einem Dii Desert Energy Leadership Summit, der am 15./16. Oktober in Wien stattfand, wurde die MENA-Region (Middle East/North Africa) als Schlüsselregion für die globale Wasserstoffproduktion identifiziert. Bereits im April 2024 wurden dort 27 GW mit erneuerbaren Energien erzeugt. Saudi-Arabien und Bahrain haben sich das Ziel gesetzt, bis 2060 Nettoemissionen von Null zu erreichen; die Vereinigten Arabischen Emirate und Oman streben das schon bis 2050 an. Qatar will seine Emissionen bis 2035 um 25 Prozent reduzieren, Kuwait immerhin um 7,4 Prozent. Bisher produziert die petrochemische Industrie in der MENA-Region jährlich rund zehn Millionen Tonnen grauen Wasserstoff.[10] Von 98 dort geplanten Zukunftsprojekten setzen jedoch mehr als 90 Prozent bereits auf grünen Wasserstoff.[11] Qatar, dessen Emir am vergangenen Dienstag in Berlin mit Bundeskanzler Olaf Scholz zusammentraf, plant aktuell den Einstieg in die Herstellung grünen Wasserstoffs.[12] Dieser könne, heißt es in Doha, auch nach Deutschland geliefert werden.[13]
Ungleiche Arbeitsteilung
Auf dem Dii Desert Energy Leadership Summit stellte die Dii Desert Energy eine Studie vor, in der sie damit wirbt, die Umstellung auf erneuerbare Energien könne in der MENA-Region zahlreiche Arbeitsplätze schaffen – vor allem in der Solarbranche, wobei fast 30 Prozent auf Jordanien entfielen. Die Wasserstoffwirtschaft und die Lokalisierung von Wertschöpfungsketten wiederum könnten bis 2050 direkt und indirekt zwischen 400.000 und 900.000 Arbeitsplätze allein in drei Staaten der arabischen Halbinsel schaffen. Dabei zeigt sich jedoch erneut die ungleiche globale Arbeitsteilung, die bislang dem Westen Vorteile schafft: Die EU ist führend etwa in der Herstellung von Elektrolyseuren; für die MENA-Staaten bleiben weniger qualifizierte Tätigkeiten.[14] Die führende Stellung des industrialisierten Westens gegenüber dem technologisch schwächeren Globalen Süden würde damit zementiert.
Fußnoten
[1] Bundesministerium für Bildung und Forschung: Nationale Wasserstoffstrategie. bmbf.de 2023.
[2] GET H2 Whitepaper: Analyse der Nationalen Wasserstoffstrategie 2023. get-h2.de 2023. Taylor Wessing: Fortschreibung der Nationalen Wasserstoffstrategie 2023. taylorwessing.com 2023.
[3] Wasserstoff-Technologie. bundesregierung.de 2024.
[4] Communication from the Commission to the European Parliament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions: A hydrogen strategy for a climate-neutral Europe. COM(2020) 301 final. Brussels, 08.07.2020.
[5] Paul Messad: Lawmakers reject German MEP’s attempt to kill EU green hydrogen rules. euractiv.com 30.03.2023.
[6] Christine Veenstra: Wasserstoff: Pipeline aus Frankreich oder eigene Produktion in Südbaden? swr.de 09.03.2024.
[7] Start der Wasserstoffpipeline von Dänemark nach Deutschland verzögert sich um Jahre. spiegel.de 08.10.2024.
[8] S. dazu Kampf um den Wüstenstrom und Die Geoökonomie des Wasserstoffs.
[9] „Mit einer belehrenden Art kommen wir nicht weiter“. energate-messenger.de 23.04.2024.
[10] Valentina Olabi, Hussam Jouhara: An assessment of current hydrogen supply chains in the Gulf Cooperation Council (GCC). sciencedirect.com 15.07.2024.
[11] Dii: A Green Revolution. A Socio-Economic Perspective on Renewables and Hydrogen in the MENA region. dii-desertenergy.org.
[12] Qatar’s clean energy strategy targets renewables. businessstartupqatar.com 13.10.2024.
[13] Qatar, Germany – Strong Historical Friendship, Promising Strategic Partnership. qna.org.qa 22.10.2024.
[14] Green hydrogen: a new mechanism of plunder and exploitation. cetri.be 28.05.2024.
Teil 2
In Afrika nimmt der Unmut über die Nutzung des Kontinents zur Versorgung Europas mit grünem Wasserstoff zu. Kritiker sprechen von einem „Widerhall der kolonialen Vergangenheit“.
In mehreren Staaten Afrikas nimmt der Unmut über deutsche Projekte zur Herstellung grünen Wasserstoffs zu; es kommt zu ersten öffentlichen Protesten. So wächst in Tunesien die Kritik daran, dass europäische Unternehmen umfangreiche Projekte zur Versorgung nicht zuletzt Deutschlands mit grünem Wasserstoff starten, während zugleich die Abhängigkeit des Landes von Energieimporten steigt. Als zentraler Drahtzieher bei der Ausbeutung erneuerbarer Energien und bei der Ausfuhr grünen Wasserstoffs in Tunesien gilt Kritikern die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), die die Erstellung der tunesischen Wasserstoffstrategie angeleitet und dabei Druck ausgeübt hat, dem Export des Energieträgers Vorrang vor seiner Nutzung im Land selbst einzuräumen. Für Unruhe sorgt nach wie vor auch ein deutsches Wasserstoffprojekt in Namibia. Ursache ist nicht zuletzt die Tatsache, dass der Hafen für den Export des Wasserstoffs auf Shark Island gebaut werden soll, einer Halbinsel, auf der in den Jahren des deutschen Genozids an den Herero und Nama ein Konzentrationslager angesiedelt war, in dem von den deutschen Kolonialherren zahlreiche Nama umgebracht wurden.
Milliardenprojekt Lüderitz
In Namibia gilt ein groß angelegtes Wasserstoffprojekt des Konsortiums Hyphen, in dem das deutsche Unternehmen Enertrag aus Dauerthal im Nordosten Mecklenburg-Vorpommerns federführend ist, als ein Meilenstein bei der Herstellung von grünem Wasserstoff. Die namibische Regierung misst dem Sektor insgesamt erhebliche Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes bei. Das Hyphen-Vorhaben – die offizielle Bezeichnung lautet Southern Corridor Development Initiative (SCDI) – umfasst eine Fläche von rund 4.000 Quadratkilometern im Tsau-Khaeb-Nationalpark nahe der Hafenstadt Lüderitz. Dort soll mit Hilfe erneuerbarer Energien Wasserstoff hergestellt werden; es ist das erste Projekt Namibias zur Produktion grünen Wasserstoffs im Gigawatt-Maßstab.[1] Das auf zehn Milliarden US-Dollar geschätzte Vorhaben wird in zwei Phasen umgesetzt und soll jährlich 350.000 Tonnen Wasserstoff produzieren. Es schafft laut Angaben von Hyphen im Verlauf der vierjährigen Bauperiode bis zu 15.000 Arbeitsplätze und soll, sobald es in Betrieb ist, Erwerbsarbeit für bis zu 3.000 Personen bieten; 90 Prozent der Arbeitsplätze sollen Namibiern zugute kommen.[2] Von einer Einsparung von bis zu sechs Millionen Tonnen CO₂ im Jahr durch die Nutzung des Wasserstoffs aus Lüderitz ist die Rede.
Schauplatz des Genozids
Schon vor Jahren wurde Kritik an dem Vorhaben laut. So wies etwa der Leiter der Namibian Chamber of Environment darauf hin, das mitten in einem Nationalpark angesiedelte Projektgebiet beherberge 20 Prozent der Pflanzenarten des Landes: „Wenn die Wasserstoffproduktion in diesem Nationalpark stattfindet, mag sie zwar kohlenstoffneutral sein, aber sie kann nicht als ‘grün‘ bezeichnet werden“.[3] Nun kommen Proteste gegen den Bau neuer Hafenanlagen hinzu, die benötigt werden, um den grünen Wasserstoff einzuschiffen und nach Europa zu transportieren, auch nach Deutschland. Ursache ist, dass die Hafenanlagen auf Shark Island errichtet werden sollen, einer Halbinsel bei Lüderitz, auf der das Deutsche Reich in den Jahren, in denen es den Genozid an den Herero und Nama verübte, eines der Konzentrationslager unterhielt, in denen die deutschen Kolonialisten Herero und Nama unter unmenschlichen Bedingungen internierten; viele von ihnen wurden von den Deutschen umgebracht oder kamen durch Krankheiten oder Mangelversorgung ums Leben. Die Herero und Nama machen sich dafür stark, Shark Island dem Gedenken an die Opfer des Genozids zu widmen, und sprechen sich gegen die Erweiterung der Hafenanlagen aus. Das betrifft auch die unmittelbar angrenzenden Gewässer, in denen sterbliche Überreste von Genozidopfern vermutet werden.[4]
Konkurrenz aus China
Mit einer gewissen Sorge wird in Berlin beobachtet, dass in Namibia in Sachen Wasserstoff die asiatische Konkurrenz erstarkt. Bereits im November vergangenen Jahres hieß es in einer Studie des vom Kanzleramt kofinanzierten Think-Tanks Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Namibia – in der Thematik „eher unerfahren“ – habe in seiner Wasserstoffstrategie festgelegt, dass es grünen Wasserstoff „nicht nur nach Europa, sondern insbesondere auch nach Japan, Südkorea und China exportieren werde“.[5] Tatsächlich treiben auch chinesische Unternehmen die Entwicklung der namibischen Wasserstoffbranche mit hohem Tempo voran. Ein Beispiel bietet ein Großprojekt bei der mehr als 400 Kilometer nördlich von Lüderitz gelegenen Hafenstadt Walvis Bay. Dort sollen ab 2029 jährlich bis zu 500.000 Tonnen grünen Ammoniaks produziert werden. Perspektivisch ist in Walvis Bay nicht nur der Export grünen Wasserstoffs bzw. Ammoniaks geplant; es sollen auch Industrieparks entstehen, die dank der Nutzung erneuerbarer Energien und grünen Wasserstoffs CO₂-neutral arbeiten können. An dem Projekt bei Walvis Bay ist führend der chinesische Konzern Envision beteiligt, einer der größten Hersteller von Windenergieanlagen weltweit. Namibia gestaltet das Vorhaben ausdrücklich nach dem Vorbild eines Envision-Projekts in China, das ab 2025 jährlich 100 Millionen Tonnen CO₂ einsparen soll.[6]
Vorrang für den Export
Auf Kritik und Proteste stoßen deutsche Planungen, die die Versorgung der Bundesrepublik mit in Afrika erzeugtem grünem Wasserstoff sicherstellen sollen, auch in Tunesien. Die dortigen Behörden hatten ursprünglich geplant, in Zeiten niedrigeren Stromverbrauchs überschüssige Solarenergie in grünen Wasserstoff umzuwandeln, um sie später in Zeiten hohen Stromverbrauchs nutzen zu können. Der Gedanke ist mittlerweile zurückgestellt worden. Der Grund: Die Wasserstoffstrategie, die die tunesische Regierung im September 2023 vorlegte, wurde gemeinsam mit der deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) erstellt. Die GIZ wiederum hatte bereits im April 2021 eine Studie präsentiert, in der sie die Chancen für die Produktion grünen Wasserstoffs in Tunesien und insbesondere auch für den Export des Wasserstoffs nach Europa bzw. nach Deutschland untersuchte – eine Art Blaupause für die tunesische Wasserstoffstrategie.[7] Wie Kritiker berichten, nutzte die GIZ ihre Position als Kooperationspartnerin der tunesischen Regierung bei der Arbeit an der Wasserstoffstrategie, um Druck auf Tunis auszuüben, dem Export des Energieträgers insbesondere nach Deutschland Vorrang vor dem Konsum im eigenen Land einzuräumen – zumal in Deutschland wegen des weitgehenden Abbruchs der Energiebeziehungen zu Russland der Bedarf an neuen Energieträgerlieferanten rasant in die Höhe geschnellt war.[8]
„Neuer Energieimperialismus“
Mittlerweile sind in Tunesien mehrere Vereinbarungen mit Unternehmen aus Europa unterzeichnet worden, die darauf zielen, grünen Wasserstoff aus Nordafrika – insbesondere aus Tunesien – per Pipeline nach Italien, Österreich und Deutschland zu transportieren; das Gesamtvorhaben firmiert unter der Bezeichnung SoutH2 Corridor. Tunesiens Eigenbedarf hingegen wird vernachlässigt; so ging der Anteil der verfügbaren Primärenergie am Energieverbrauch von 51 Prozent im April 2023 auf 44 Prozent im April 2024 zurück.[9] Kritiker sprechen denn auch von „einer neuen Form von Energieimperialismus“, der darin bestehe, dass europäische Staaten „Afrika als Batterie für ihren Bedarf“ nutzten.[10] Das sei „nicht neu“: „Diese Arrangements sind ein starker Widerhall der kolonialen Vergangenheit.“ Die tunesische Bevölkerung nimmt dies allerdings nicht mehr tatenlos hin. So kam es am 24. April dieses Jahres in Tunis zu einem Protest gegen die „neokolonialen Projekte“ bei der Ausbeutung erneuerbarer Energien in Tunesien, der vor dem GIZ Energy Cluster in der tunesischen Hauptstadt abgehalten wurde. Die Wahl des Ortes erfolgte wegen der zentralen Rolle der deutschen Organisation bei der energiewirtschaftlichen Ausplünderung Tunesiens.[11]
Fußnoten
[1] Claudia Bröll: Erst Diamenten, jetzt grüner Wasserstoff. faz.net 14.09.2024.
[2] Southern Corridor Development Initiative (SCDI) – Namibian Green Hydrogen Project. hyphenafrica.com.
[3] Ann Esswein: Wasserstoff aus der Wüste. taz.de 05.12.2022. S. dazu „Grüner Energie-Imperialismus“.
[4] Caroline Kimeu: Call for port extension to be halted as genocide remains are found on Namibia’s Shark Island. theguardian.com 06.05.2024.
[5] Jacopo Maria Pepe, Dawud Ansari, Rosa Melissa Gehrung: Die Geopolitik des Wasserstoffs. swp-berlin.org 16.11.2023.
[6] Donald Matthys: Namibia’s green hydrogen ambitions fuelled by lessons from China. namibian.com.na 02.11.2024.
[7] GIZ: Study on the opportunities of “Power-to-X” in Tunisia. Bonn/Eschborn, April 2021.
[8] Elyes Ben Ammar, Saber Ben Ammar: Green hydrogen: a mechanism of plunder and exploitation. cetri.be 28.05.2024.
[9] Tunisia: 9% increase in primary energy balance deficit late in April 2024. zawya.com 14.06.2024.
[10], [11] Saber Ammar: Green hydrogen: Africa is not Europe’s battery. africanarguments.org 14.08.2024.
Frühere Artikel
Hype um Wasserstoff / Neokoloniale Politik (30.11.2021)
Deutscher Energie-Imperialismus und der Klimaschutz (31.7.2021, 1.8.2021und 28.10.2023)