Zeitenwende: Unbequeme Einsichten, unsichere Aussichten
von Joachim H. Spangenberg und Rudi Kurz (Wissenschaftlicher Beirat des BUND/FoE Deutschland)
Eine kürzere Fassung ist erschienen unter dem Titel
Zeitenwende: Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert
https://www.oekom.de/beitrag/zeitenwende-sicherheitspolitik-im-21-jahrhundert-360
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine beherrscht heute die politische Tagesordnung. Die schrecklichen Bilder haben die Bedrohung der Menschheit durch Pandemie, Klimawandel und Biodiversitätsverlust in den Prioritäten und Aktivitäten von Entscheidungsträgern und Medien in den Hintergrund gedrängt – auch wenn die Opferzahlen im Vergleich zu 15-18 Millionen Corona-Toten und den vielen Millionen aktuellen und zukünftigen Umweltopfern geringer sind. „Nachrüsten“ ist in der Klima-, Biodiversitäts- und Ressourcenpolitik mindestens so dringend wie in der militärischen Sicherheitspolitik. Schon jetzt ist erkennbar, dass mehr Sicherheit mit höheren Kosten verbunden ist.
Die aktuelle Herausforderung ist die Notwendigkeit hoher Investitionen bei hoher Unsicherheit. Zu den Auswirkungen des Krieges gehören offenbar ein neuer Kalter Krieg, Deglobalisierung (über das hinaus, was im Finanzsektor während der Großen Rezession geschah), Entkopplung der Handelsströme (über die Auswirkungen der Pandemie auf alle Branchen hinaus), finanzielle Belastungen, Schwierigkeiten bei der Koordinierung der Klimapolitik, die Notwendigkeit einer Wiederbelebung der Demokratie (auch im Westen), Kontrolle der Macht der Unternehmen. Ob der Krieg längerfristig Nüchternheit oder Demokratie oder Polarisierung oder Angst auslösen wird, ist eine offene Frage – es ist zu früh, das zu beurteilen. Umso wichtiger ist es, Wege innerhalb der Krise zu erforschen, denn die Wege aus der Krise sind (noch) nicht sichtbar.
Inhalt
- Dimensionen des Krieges
- Zeitenwenden
- Die Zeitenwende als Wende zum Postwachstum
- Zeitenwende als Ende des Wohlstandswachstums
- Die Zeitenwende und die Klimakrise
- Ausgewählte globale Krisenmanifestationen
- Zeitenwende zum Primat der Sicherheit
- Eine Zeitenwende für die Gesundheit
- Die Zeitenwende als Ressourcenwende
- Eine Zeitenwende für die Küste
- Die Zeitenwende im Handel, und die Wettbewerbsfähigkeit
- Zeitenwende als Wende in Forschung und Technologie
- Was tun?
- Quellen
Dimensionen des Krieges
Krieg ist die ultimative Nicht-Nachhaltigkeit, für Menschen und Umwelt. Vor Ort bedeutet dies die Bombardierung von Chemiefabriken, Ölraffinerien und Kohleminen (auch auf russischer Seite wurde bereits Ölinfrastruktur in Brand gesetzt), wodurch eine Mischung aus verschiedenen toxischen Substanzen, Rußpartikeln, Methan und CO2 freigesetzt wird. Darüber hinaus werden CO2-speichernde Ökosysteme zerstört oder durch Schadstoffe kontaminiert. Die klimatischen Auswirkungen von Kriegen können daher katastrophale Ausmaße annehmen – der 2003 begonnene Irak-Krieg verursachte mit 141 Millionen Tonnen CO2eq mehr CO2-Emissionen als 21 der 27 EU-Mitgliedstaaten im Jahr 2019 freisetzten. Außerdem ist der Wiederaufbau nach einem Krieg mit hohen Emissionen verbunden; in Syrien werden diese auf 22 Millionen Tonnen CO2 geschätzt, und auch der Wiederaufbau der Ukraine wird enorme Ressourcen erfordern (Claußen 2022).
Infolge der russischen Invasion vergrößert sich auch der bereits massive globale CO2-Fußabdruck des Militärsektors – weltweit soll der Militärsektor für etwa 6 % der globalen CO2-Emissionen verantwortlich sein. In dem Anfang April veröffentlichten IPCC-Bericht, der das begrenzte globale CO2-Budget betont, wurde der Militärsektor jedoch ausgeklammert, ebenso wie die CO2-Emissionen des Militärs auf Druck der USA nicht in die Reduktionsziele von Klimaabkommen wie dem Kyoto-Protokoll von 1997 und dem Pariser Klimaabkommen von 2015 einbezogen wurden. Bislang ist er kein verpflichtender Bestandteil und wird weder konsequent erhoben noch transparent veröffentlicht. Der daraus resultierende Mangel an Daten führt dazu, dass der Einfluss des Militärs auf die globale Erwärmung nur ungenau berechnet werden kann. Dennoch hat sich gezeigt, dass das US-Verteidigungsministerium der weltweit größte institutionelle Emittent von Treibhausgasen ist und allein mehr zur Klimakrise beiträgt als Länder wie Schweden oder Portugal (Claußen 2022).
Nicht nur die Kriegsparteien investieren Rohstoffe und Ressourcen in die Aufrüstung, die zur Bewältigung der Klimakrise nötig wären, sondern es wird weltweit aufgerüstet, obwohl die globalen Rüstungsausgaben bereits auf einem Rekordniveau von 2,1 Billionen US-Dollar liegen. Strategische Planer bereiten sich heute auf eine vom Klimawandel betroffene Welt vor, in der die Ziele der Wachstums- und Herrschaftssicherung gegen alle Widerstände militärisch durchgesetzt werden sollen. Wie ein Greenpeace-Bericht aus dem vergangenen Jahr zeigt, diente der Großteil aller EU-Militäreinsätze unter anderem der Sicherung der eigenen Öl- und Gasversorgung. Die Zukunftsvision eines klimaneutralen Krieges mit Ökopanzern und Wasserstofftreibstoff à la NATO und Rüstungsindustrie kann jedoch nicht die Antwort sein – was Sicherheit wirklich ist und für wen, muss neu und offen diskutiert werden.
Das deutsche Militär hat 2019 bereits rund 4,5 Millionen Tonnen CO2eq emittiert, fast doppelt so viel wie der inländische Flugverkehr in Deutschland mit 2,5 Millionen Tonnen. Diese Zahl wird weiter steigen. Allein einer der von Lockheed Martin bestellten F-35-Kampfjets verursacht mit einer einzigen Tankfüllung rund 28 t CO2eq, vergleichbar mit den jährlichen Emissionen einer dreiköpfigen Familie. Mit dem 100-Milliarden-Euro-Sonderfonds nimmt Deutschland wissentlich weitreichende Klimaschäden in Kauf. Es wird kaum möglich sein, dass Deutschland seinen Beitrag zum 1,5-Grad-Limit leisten kann (Claußen 2022). Laut IPCC werden mehrere Klimarisiken gleichzeitig auftreten, und mehrere klimatische und nichtklimatische Risiken werden interagieren, was zu einem erhöhten Gesamtrisiko und Risikokaskaden über Sektoren und Regionen hinweg führt (IPCC 2022a: 2).
Das Klima hat globale Durchschnittstemperaturen erreicht, wie sie seit mindestens 800.000 Jahren nicht mehr aufgetreten sind (IPCC 2022a, b). Das letzte Mal, dass die atmosphärischen CO₂-Konzentrationen so hoch waren, war vor mehr als 3 Millionen Jahren, während der Warmzeit im mittleren Pliozän. Damals war die Temperatur um 2°-3°C höher als in der vorindustriellen Zeit, und der Meeresspiegel lag 15-25 Meter höher als heute (NOAA 2021).
Die Zusammensetzung der Atmosphäre hat sich bereits erheblich verändert: Die Kohlendioxidkonzentration ist im Vergleich zur vorindustriellen Zeit um etwa 50 %, die Methankonzentration um 150 % und die Distickstoffoxidkonzentration um 25 % gestiegen (NOAA 2022). Die jährliche Anstiegsrate des atmosphärischen Kohlendioxids in den letzten 60 Jahren war etwa 100 Mal schneller als frühere natürliche Anstiege, wie z. B. am Ende der letzten Eiszeit vor 11.000-17.000 Jahren. Diese transformativen Veränderungen traten auf, obwohl der Ozean so viel Kohlendioxid aufgenommen hat, dass sein pH-Wert um 0,1 Einheiten gesunken ist, was einem Anstieg des Säuregehalts um 30 % entspricht (NOAA 2021) und schwerwiegende biologische Auswirkungen hat (IPCC 2019). Diese massiven Veränderungen tragen zur aktuellen sechsten globalen Welle des Massensterbens von Arten bei; Arten gehen etwa 100-mal schneller verloren als neue durch die natürliche Evolution entstehen, und etwa 1 Million Arten sind vom Aussterben bedroht (IPBES 2019). Der Grund dafür ist, dass drei Viertel der Umwelt an Land und etwa 66 % der Meeresumwelt durch menschliche Aktivitäten erheblich verändert wurden. Mehr als ein Drittel der weltweiten Landfläche und fast 75 % der Süßwasserressourcen werden heute für den Anbau von Pflanzen oder die Viehzucht genutzt. Die Nachfrage nach Rohholz ist um 45 % gestiegen, und jährlich werden weltweit etwa 60 Milliarden Tonnen erneuerbare und nicht erneuerbare Ressourcen entnommen, was sich seit 1980 fast verdoppelt hat. Seit 1980 hat sich die Plastikverschmutzung verzehnfacht, und seit 1992 hat sich die Fläche der Städte mehr als verdoppelt. Im sozialen Bereich hat der Massenhunger parallel zum Reichtum der Milliardäre und den Gewinnen der Ölkonzerne und Pharmamultis zugenommen, während andere Wirtschaftszweige unter dem Zusammenbruch der Lieferketten und dem Ende der Just-in-time-Produktion leiden. Verlagerung, Diversifizierung und Spekulation tragen alle zu steigenden Kosten bei – die Preise werden sich wahrscheinlich auf einem viel höheren Niveau einpendeln als vor dem Ausbruch der Krise.
Angesichts der Bodendegradation, die die Produktivität von 23 % der weltweiten Landfläche verringert hat, und der nicht nachhaltigen Befischung von mehr als einem Drittel der Meeresfischbestände (im Jahr 2015) ist die Nahrungsgrundlage der Menschheit in Gefahr. Wenn die Treibhausgasemissionen so weitergehen wie bisher, wird bis 2030 eine globale Erwärmung von 1,5° erreicht und bis 2050 von 2° übertroffen, was dazu führt, dass die Erde zu einem Treibhaus wird, in dem riesige Gebiete aufgrund der Hitze und der mangelnden Wasserversorgung durch die erhöhte Evapotranspiration nicht mehr bewohnbar sind. Die Zahl der Umweltkatastrophenflüchtlinge wird in die Milliarden gehen, die kein Dach über dem Kopf haben, nichts zu essen und kein Wasser zu trinken.
Sicherheit im 21. Jahrhundert muss daher anders buchstabiert werden als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Militärische Expansion und Überlegenheit setzen letztlich wirtschaftliche Überlegenheit voraus, die wenig Rücksicht auf ökologische Belastungsgrenzen und Rohstoffvorräte nehmen kann. Wenn Ökosysteme und lebenswichtige Ressourcen wie Wasser und Ozeane, Ackerland und Böden, Wälder und Biodiversität weltweit verloren gehen oder Wetterextreme die Lebensgrundlagen bedrohen, stehen auch die menschliche Sicherheit und die gesellschaftliche Stabilität auf dem Spiel (Scheffran 2022). Dies wird in den nächsten zwei Jahrzehnten Kräfte und politische Aufmerksamkeit binden, die auf die Bekämpfung der Klima- und Biodiversitätskatastrophe konzentriert werden sollten. Der Krieg zeigt die Schwächen der bisherigen Klima- und Nachhaltigkeitspolitik ebenso auf wie er deren Dringlichkeit unterstreicht. Gleichzeitig untergräbt er nachhaltige Lösungen, indem er Gelder und Ressourcen umleitet, die öffentliche Aufmerksamkeit verlagert, Märkte destabilisiert, Kooperationen beeinträchtigt, geopolitische Konflikte auslöst, Natur und Gesellschaft durch Aufrüstung und Krieg zerstört. Noch knapper werden wahrscheinlich Vertrauen, Teilhabe und Kooperation, die für die notwendigen gemeinsamen Lösungen dringend erforderlich sind. Der permanente Krisenmodus der politischen Reaktionen lässt den Handlungsspielraum für die Gestaltung einer globalen nachhaltigen Zukunft immer weiter schrumpfen.
Zeitenwenden
Immerhin ist inzwischen klar: Wir leben in einer neuen Zeitrechnung. Sicherheit ist keine Selbstverständlichkeit, und es gibt sie nicht zum Nulltarif. Die Dimension dieses Wendepunkts ist jedoch noch nicht klar: Der Verlust der biologischen Vielfalt, die Klimakrise, Pandemien und Wirtschaftskrisen werden weiterhin zusammenwirken. Ressourcenknappheit wird zu Anpassungsproblemen und potenziellen Konflikten führen, da wir in eine Welt des Ressourcenmangels eintreten; das soziale Gleichgewicht und die gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit werden zunehmend unter Druck geraten. Die bisher vorgestellten Antworten spiegeln jedoch einen Tunnelblick wider: Fossile Brennstoffe sollen durch erneuerbare Energien ersetzt werden, ohne die Grenzen des Angebots anzuerkennen. Zusammenbrechenden Versorgungsketten wird mit Diversifizierung begegnet, anstatt die Nachfrage zu senken; die prognostizierte Nachfrage wird in vielen Fällen die globalen Reserven übersteigen. Klimaschutzbemühungen werden aufgeschoben, ohne zu erkennen, dass das globale Kohlenstoffbudget in absoluten Zahlen begrenzt ist und dass jeder Tag der Verzögerung Wochen erfordert, um die der Übergang früher abgeschlossen wird, um die spätere Senkung der hohen Emissionswerte auszugleichen.
Sogar zusätzliche Quellen für Treibhausgasemissionen werden erforscht und aktiv genutzt, um Ersatz für russische Lieferungen zu finden, während die russische Produktion nicht sinkt (-3% lt IEA) sondern in andere Länder exportiert wird, und der Ölverbrauch durch den Einsatz statt Gas deutlich steigt. Dazu dient dann die geplante stärkere die Förderung von Öl und Gas in der Nordsee durch die Niederlande, Norwegen und das Vereinigte Königreich, die neuen Kohleminen im Vereinigten Königreich, die Erschließung fossiler Brennstoffe in Afrika (eine Forderung der Afrikanischen Union, die von der EU unterstützt wird). Der Kongo hat Bohrlizenzen für seinen artenreichen Tropenwald versteigert, den letzten großen Wald, der als Kohlenstoffsenke fungiert (der Amazonas nicht mehr!) und der auf einem der größten Feucht- und Sumpfgebiete der Erde liegt, das so viel Kohlenstoff speichert wie die Permafrostgebiete (die nach 2040 schmelzen werden, weil die Bedingungen für ihre dauerhafte Existenz dann nicht mehr gegeben sind, so Fewster et al. 2022). Nur zur Erinnerung: Der IPCC und der UN-Generalsekretär wiederholen immer wieder, dass es zur Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze für die globale Erwärmung notwendig ist, keine neuen fossilen Brennstoffe zu fördern.
In der Tat bedeutet dies auch einen grundlegenden industriellen Wandel. Erneuerbare Energieanlagen erfordern eine neue Rohstoffbasis – das postfossile Zeitalter wird ein Metallzeitalter sein, das nicht nur durch Ressourcenknappheit, sondern auch durch Rohstoffverknappung gekennzeichnet ist (Urban 2022). Gleichzeitig verschärft sich der Kampf um Flächen, für die Landwirtschaft, für den Artenschutz, für Holz als Rohstoff oder Energieträger, für Wohnen und Infrastruktur, für die Bioökonomie: Es gibt nicht genug für alle Ansprüche. Auch wenn es sich um eine „unbequeme Wahrheit“ handelt, muss die veränderte Realität voll anerkannt und kommuniziert werden. Ein seltenes Beispiel liefert der deutsche Wirtschafts- und Klimaminister R. Habeck, der von „Zumutungen“ spricht und davon, dass „alle ärmer werden“ – während sich viele Politiker weiterhin populistisch wegducken.
Die Zeitenwende als Wende zum Postwachstum
Seit Jahrzehnten sind die Wachstumsraten rückläufig, und seit einiger Zeit zeichnet sich eine säkulare Stagnation ab, wobei das erwartete mittelfristige Wachstum bei etwa 1% liegt. Nach dem Doppelschlag von Covid und Krieg wird es höchstwahrscheinlich niedriger sein. Der Raubbau am Naturkapital (Überschreitung der planetarischen Grenzen) wird als Wachstumsbremse wirksam werden, auch wenn die Modelle der etablierten Ökonomen dies ignorieren, und die Tendenz sinkender Wachstumsraten weiter verstärken (Brand-Correa et al. 2022). Das Zeitalter des Wachstums geht also zu Ende – wir befinden uns bereits mitten im Übergang in das Postwachstumszeitalter, ohne uns auf die neuen Rahmenbedingungen vorbereitet zu haben.
Das Ende des Wachstums und ein schrumpfendes BIP werden erhebliche Auswirkungen auf den Wohlfahrtsstaat, das öffentliche Gesundheits- und Bildungswesen, die soziale Gerechtigkeit und die zivile und militärische Sicherheit haben, die auf der Annahme eines permanenten Wachstums aufgebaut waren. Wenn die soziale Stabilität gewahrt werden soll, müssen Wirtschaft und Gesellschaft vom Wachstum unabhängig werden. Dies würde es dem öffentlichen Schuldner auch sehr schwer machen, die enormen Investitionen zu finanzieren, die zur Finanzierung eines Übergangs zur Nachhaltigkeit oder zur Wiederherstellung der Ökosysteme erforderlich sind. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Tatsache, dass sich das BIP-Wachstum verheerend auf die Umwelt ausgewirkt hat, nicht bedeutet, dass ein schrumpfendes BIP zwangsläufig gut für die Umwelt ist – das hängt von den gewählten politischen Prioritäten ab (Asquith, Marinakis 2022).
Ein Blick zurück auf die ursprüngliche Studie zu den Grenzen des Wachstums (Meadows et al. 1972) zeigt, wie realistisch ihre Szenarien waren (es ging ja nicht um Prognosen, auch wenn Kritiker*innen die Studie immer wieder in diesem Sinne falsch interprtierthaben) – die meisten aktuellen Trends folgen ziemlich genau dem Szenario „Double Resources“ (Turner 2008). Dieses Szenario ging von bedeutenden Ressourcenfunden aus, aber im Gegensatz zum Szenario „Stabilisierte Welt“, das technologischen Fortschritt mit einem sanften Ende des Wirtschafts- und Bevölkerungswachstums kombinierte, endete es dennoch mit einem Zusammenbruch. Neue Wirtschaftsmodelle, die auf fortgeschrittener Systemdynamik basieren, bestätigen, dass wir uns immer noch auf dem Weg zum Kollaps befinden (Herrington 2021; Pasqualino et al. 2015). Sie zeigen aber auch, dass dies nicht unvermeidlich ist, da Volkswirtschaften ohne Wachstum auskommen und sogar gedeihen können (D’Alessandro et al. 2020).
Zeitenwende als Ende des Wohlstandswachstums
Bislang betrachten grüne Wachstumspolitiken immer noch Wachstum als unabhängige Variable und einen „möglichst geringen“ globalen Erwärmungseffekt als abhängige Variable. Notwendig ist ein Perspektivenwechsel: Die unabhängige Variable ist das absolut begrenzte Klimabudget, und die Produktions- und Konsumsysteme müssen sich an die daraus resultierenden Einschränkungen anpassen. Ungeachtet dessen steigen die Kosten für die Verteidigung. Das gilt für die 100 Mrd. € zusätzlicher Rüstungsausgaben in Deutschland, die ein Vielfaches an Folgekosten generieren werden, aber auch z.B. auch für die präventive Verbesserung des Gesundheitswesens, das derzeit durch hohe Arbeitsbelastung bei schlechter Bezahlung qualifizierte Fachkräfte en masse verliert. Das gilt auch für den Klimaschutz und den Verlust der biologischen Vielfalt: Durch zögerliches Handeln in der Vergangenheit steigen die Kosten der Klimaanpassung und die Schadenskosten durch Klimakrise und Ökosystemzerstörung. Aufgrund der steigenden defensiven Kosten (Kosten für wirtschaftliche, ökologische und militärische Sicherheit, Schadens- und Wiederherstellungskosten) wird weniger Geld für den Konsum zur Verfügung stehen. Daher erwarten wir sinkende Medianeinkommen, die eine Umverteilung in und zwischen den Ländern erforderlich machen.
Um die europäischen Städte lebenswert zu halten, sind ebenfalls erhebliche Investitionen zur Verbesserung des Stadtklimas erforderlich, sowohl in traditionellen als auch in neu entstehenden Wirtschaftszweigen. So sucht beispielsweise das Handwerk verzweifelt nach neuen Mitarbeitern, von Dachdeckern, Klempnern und Bauarbeitern bis hin zu Gärtnern und Landschaftsbauern. In den Stadtverwaltungen werden Planer, Umwelt- und Fahrradbeauftragte eingestellt, Grünflächenpfleger und Baumpfleger sind gefragt. Architekturbüros suchen junge, gut ausgebildete Architekten für „grünes“ Bauen und Sanieren, z.B. für die Umsetzung von Dachbegrünungen und Hausfassaden. Alle diese Berufe bieten notwendige defensive Leistungen, tragen also nichts zum Produktionspotenzial bei und verstärken durch ihren steigenden Anteil an der Gesamtwirtschaft die Tendenz zu einem sinkenden Wachstum.
In dem Maße, in dem die ökologische Widerstandsfähigkeit abnimmt, wird mehr Arbeit auf die Feuerwehren zukommen, die Waldbrände bekämpfen, auf die Bauarbeiter, die Deiche für das Meer und die Flüsse errichten (auch wenn sie das Eindringen von Salzwasser in das Grundwasser nicht verhindern können), und auf die Notfall- und Gesundheitsdienste. Entsalzungsanlagen werden erforderlich sein, um ausreichende Mengen an Trink-, Brauch- und Bewässerungswasser bereitzustellen, das früher fast kostenlos aus den Grundwasserreservoirs kam.
Im gesamten Gesundheitssystem, in Kindertagesstätten und Kindergärten wird es unumgänglich sein, klimatisierte Behandlungs- und Arbeitsräume bereitzustellen. In städtischen Gebieten mit überhitzten Wohnungen werden öffentliche Kühlzentren eingerichtet werden müssen. Leider erhöhen alle Kühlungsbemühungen den Energiebedarf, der dringend gesenkt werden muss. In der Industrie müssen die heutigen Produktionsanlagen so umgebaut werden, dass sie im Sommer überhaupt nutzbar sind, und Berufe mit einem hohen Anteil an Außenarbeit (viele von ihnen sind für eine lebenswerte Zukunft entscheidend, wie z. B. Handwerker und Gärtner) werden tiefgreifende strukturelle Veränderungen erfahren, mit bezahltem Urlaub in heißen Sommern, Notdiensten und veränderten Arbeitszeiten einschließlich Siesta.
Die Bevölkerungsalterung wird einerseits zu einem weiteren Rückgang der Erwerbsbevölkerung führen – ein Risiko für den Übergang zur Nachhaltigkeit, da qualifizierte Arbeitskräfte knapp sind und einschlägige Fähigkeiten für junge Menschen keine Priorität zu haben scheinen. Andererseits wird sie zu einer steigenden Nachfrage nach Gesundheits- und Pflegeleistungen führen. Diese Ausgaben werden zusammen mit steigenden Rentenansprüchen die für Investitionen in den Übergang zur Nachhaltigkeit und für den Konsum der Erwerbsbevölkerung zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel weiter verknappen (Asquith, Marinakis 2022).
Die Inflation ist weitgehend ein vorübergehendes Problem, das durch die Energiepreise verursacht wird – diese werden hoch bleiben, aber ein Plateau erreichen. Da die Inflation von Jahr zu Jahr gemessen wird, wird der Inflationseffekt in den nächsten paar Jahren vorbei sein, während die Auswirkungen auf die Lebenshaltungskosten bestehen bleiben werden. Da eine Überhitzung der Wirtschaft nicht der Grund der Preissteigerungen ist, werden die Maßnahmen der Zentralbank (d. h. die Erhöhung der Zinssätze) nicht zur Eindämmung der Inflation beitragen, sondern die Wirtschaftstätigkeit bremsen, wodurch eine Stagflation wahrscheinlicher wird.
Da die Zeitenwende mit mehr Aufgaben und höheren Staatsausgaben verbunden ist, werden Steuer- und Beitragserhöhungen unvermeidlich sein. Bei einem BIP-Wachstum nahe oder unter Null werden die verfügbaren Einkommen und damit die Konsumausgaben der privaten Haushalte mit ziemlicher Sicherheit sinken müssen. Die Belastungen der Zeitenwende erzwingen also Suffizienz, d.h. ein „Weniger“ an Konsum. Wenn dies nicht mit sozialem Ausgleich für schwache Gruppen und Suffizienzpolitik, d.h. staatlicher Unterstützung für veränderte Konsumgewohnheiten (vom Homeoffice über das Radfahren bis hin zum Verzicht auf Flugreisen, insbesondere bei Geschäftsreisen) einhergeht, besteht eine große Gefahr für die gesellschaftliche Stabilität.
Die Zeitenwende und die Klimakrise
Dvorak et al. (2022), die ähnliche Ergebnisse des IPCC (2022a, b) bestätigen, kommen zu dem Schluss, dass wir selbst dann, wenn alle Treibhausgasemissionen bis zum 1. Januar 2021 eingestellt würden, mit einer Wahrscheinlichkeit von 42 % bereits eine Spitzenerwärmung von mehr als 1,5 °C erleben we4den, die sich bis 2029 auf 66 % erhöht, wenn wir von einem mittleren Emissionspfad ausgehen (SSP2-4.5, 340 GtCO2 werden nach 2021 emittiert). Von 1850 bis 2019 beliefen sich die Industrieemissionen auf insgesamt 2290 Milliarden Tonnen CO2eq, und mit 1080 Milliarden Tonnen, die nach Januar 2021 emittiert werden, wird die 1,5°-Schwelle überschritten, und mit 1980 Milliarden Tonnen liegen wir jenseits von 2° globaler Erwärmung – doppelt so viel wie heute, mit viel mehr als doppelt so starken Auswirkungen.
Da Kohlendioxid jahrhundertelang in der Atmosphäre verbleibt, verlangsamt eine Verringerung der CO2-Emissionen die Erderhitzung, bringt aber keine Abkühlung. Methan CH4 hingegen wird innerhalb von 10-20 Jahren abgebaut, und auch andere Gase wie N2O (Distickstoffoxid, Lachgas) sind weniger langlebig. Daher sollte die Beendigung ihrer Emissionen neben der schrittweisen Einstellung des Kohlendioxidausstoßes eine Priorität sein. Diese Priorität wurde lange Zeit vernachlässigt, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass die CO2-Debatte in den wohlhabenden Ländern (deren Treibhausgasemissionen in der Tat von Kohlendioxid dominiert werden) alle Verhandlungen beherrscht und die Tatsache vernachlässigt wird, dass die wichtigste Emission der Schwellenländer Methan ist (Spangenberg 2014). Trotz der auf der COP in Glasgow getroffenen Vereinbarung, sich auf die CH4-Emissionen zu konzentrieren, lassen die derzeitigen Bemühungen zur Steigerung der Erdgasförderung in Afrika und in der Nordsee eher einen Anstieg als eine Verringerung der Emissionen erwarten.
Dennoch werden extreme Wettersituationen und ihre Folgen immer noch als Abweichungen von der Norm wahrgenommen, anstatt zu erkennen, dass sie die neue Norm sind: regelmäßige großflächige Sommerdürren, Trinkwasserknappheit, Ernteausfälle (zu heiß für Weizen, zu trocken für Mais), Wirbelstürme, Überschwemmungen, Hitzetod, tropische Krankheitserreger und neue Pandemien
Die heutige Dekarbonisierung ändert daran in den nächsten 20 Jahren nichts, sie ist aber entscheidend dafür, wie groß die Gebiete sein werden, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts für den Menschen unbewohnbar werden. Klimaneutralität bleibt also wichtig (und sie 20 Jahre ohne erkennbare Wirkungen durchzuhalten ist eine massive politische Herausforderung), aber die unterschätzte Aufgabe der Stunde sind massive Investitionen in die Klimaanpassung – und eine Willkommenskultur für Klimaflüchtlinge.
Ausgewählte globale Krisenmanifestationen
- In den USA verwandelt sich der Große Salzsee in eine von der Sonne zerklüftete Fläche aus Salz und giftigen Chemikalien, und der größte Stausee, Lake Mead, wird zu einer Pfütze.
- Im Jahr 2021 sind im amerikanischen Westen 3 Mio. ha verbrannt.
- Die Wälder von der Arktis bis zum Amazonas verändern sich aufgrund der Klimakrise in einem „schockierenden“ Tempo: Im Norden dringen die Bäume in die zuvor unfruchtbare Tundra vor, während sie weiter südlich aufgrund der zunehmenden Hitze absterben, haben Wissenschaftler herausgefunden. Die globale Erwärmung sowie Veränderungen der Böden, des Windes und der verfügbaren Nährstoffe verändern die Zusammensetzung der Wälder rapide und machen sie weit weniger widerstandsfähig und anfällig für Krankheiten, so eine Reihe von Studien, die den Gesundheitszustand von Bäumen in Nord- und Südamerika untersucht haben. Viele Waldgebiete werden nun anfälliger für verheerende Waldbrände, was zur Freisetzung weiterer Treibhausgase aus diesen riesigen Kohlenstoffspeichern führt, die den Planeten noch mehr aufheizen.
- In Deutschland hat die Klimakrise nach Angaben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klima (BMWK) zwischen 2000 und 2021 Schäden in Höhe von 145 Milliarden Euro verursacht.
- Die hitzeverformten Schienen des britischen Zugsystems, die beschädigten Straßen und die schmelzenden Rollbahnen auf den Flughäfen verdeutlichen die Anfälligkeit des Verkehrssystems gegenüber der zunehmenden Sommerhitze.
- In der Landwirtschaft kommt es derzeit in China, Indien, ganz Europa und im Mittleren Westen der USA zu Ernteausfällen. Am Horn von Afrika breitet sich aufgrund der klimabedingten Dürre eine Hungersnot aus. Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Gefahrenzonen, aber dennoch wird die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen durch Investitionen verstärkt. Sogar eine Renaissance der fossilen Brennstoffe scheint sich abzuzeichnen: In Europa ersetzt die Kohle das russische Gas (das stattdessen mit einem Rabatt an Indien verkauft wird),
- Die 100 Milliarden US-Dollar, die dem globalen Süden für die Anpassung an den Klimawandel versprochen wurden, versickern weiter, anstatt zu fließen.
- Der British-Gas-Eigentümer Centrica hat nach einem Betriebsgewinn von 1,3 Mrd. £ wieder Dividenden ausgeschüttet, während Shell zwischen April und Juni einen Gewinn von 10 Mrd. £ meldete und damit seinen bisherigen Höchststand, der zwischen Januar und März erzielt wurde, um 26 % übertraf. Die Gewinne waren mehr als doppelt so hoch wie im gleichen Zeitraum des Jahres 2021. Shell versprach den Aktionären Ausschüttungen in Höhe von 6,5 Mrd. GBP während die Probleme der Haushalte mit ihren Energierechnungen immer schlimmer wurden.
Zeitenwende zum Primat der Sicherheit
Die Metaerzählung hat sich schlagartig von Nachhaltigkeit zu Sicherheit gewandelt (wie 1991 von Nachhaltigkeit zu Standortsicherheit). Einige Nachhaltigkeitsthemen werden unter dem neuen Meta-Narrativ fortbestehen und sogar gestärkt werden (Energie- und Ernährungssicherheit), andere werden es schwer haben (sozial-ökologische Transformation, soziale und Umweltgerechtigkeit, Suffizienz) – was von einem guten Leben innerhalb der planetarischen Grenzen bleibt ist unsicher, ebenso wie die Zukunft der Wälder, Ozeane und Meeresböden. Exemplarisch kann man nennen:
Energiesicherheit: Der Schwerpunkt liegt nicht auf dem Energiesparen, sondern auf der Versorgungssicherheit durch die Erschließung neuer Versorgungsquellen. Deutschland kauft US-amerikanisches Fracking-Gas und reaktiviert Braunkohlekraftwerke, die Niederlande, die ihre Gasförderung aus Umweltgründen fast eingestellt hatten, planen neue Erschließungen im Wattenmeer, Norwegen will mehr Öl und Gas aus der Nordsee fördern, England plant sogar die ersten neuen Kohleminen seit Jahrzehnten. Afrikanische Länder fordern das Recht, ihre fossilen Rohstoffreserven zu erschließen, und die EU ist bereit, dies zu fördern.
Die DR Kongo hat im Juli 2022 Genehmigungen für die Öl- und Gasexploration versteigert, und zwar im einzigen verbliebenen großen Regenwald der Welt, der mehr Kohlenstoff absorbiert als er ausstößt, und in den größten tropischen Torfgebieten der Erde, die das Äquivalent der weltweiten Emissionen von drei Jahren fossiler Brennstoffe speichern. Auf der Klimakonferenz in Glasgow hatte sich das Land bereit erklärt, bis Ende 2023 Regeln für die Umweltverträglichkeitsprüfung von Bergbauprojekten zu entwickeln – es ist zu hoffen, aber keineswegs sicher, dass diese Prüfungen die Öl- und Gasförderung ausschließen werden.
In den USA haben Gerichtsentscheidungen nationale Emissionsbegrenzungen unmöglich gemacht, und die klimapolitische Initiative ist gescheitert. Es konnte nur eine in Inhalt und Umfang abgeschwächte Version vereinbart werden, die als Inflation Reduction Act IRA bezeichnet wird und 370 Mio. $ für klimarelevante Themen vorsieht. Auch wenn das Abkommen durch die Verringerung der Treibhausgasemissionen im Vergleich zu einer „business as usual“-Entwicklung langfristig einige Vorteile bringen mag, ist es ein klimapolitischer Fehlschlag: Die Lösung der Klimakrise erfordert den weltweiten Ausstieg aus fossilen Brennstoffen bis zur Mitte des Jahrhunderts, und darauf zielt der IRA nicht ab. Was den Verbrauch betrifft, so fördert er nicht weniger, sondern mehr, z. B. durch die Subventionierung von Elektrofahrzeugen und energieeffizienten Haushaltsgeräten, aber der größte Teil der Mittel kommt Unternehmen zugute. Insbesondere die Öl- und Gasindustrie wird nicht nur von neuen Fördermöglichkeiten profitieren (die IRA enthält Vorschläge zur Ausweitung der Öl- und Gaserschließung auf Bundesland), sondern auch von der Wasserstofferzeugung und unbewiesenen und umstrittenen Technologien wie der Kohlenstoffabscheidung, die durch den Gesetzentwurf mit Steuergutschriften in Milliardenhöhe gefördert werden sollen. Beides bedeutet, dass die Produktion und Nutzung fossiler Brennstoffe für die nächsten Jahrzehnte festgeschrieben wird (Lakhani 2022). Auf der wirtschaftlichen Seite wird eine Mindestkörperschaftssteuer von 15 % eingeführt, die auf Unternehmen aus dem Silicon Valley abzielt, aber Steuerschlupflöcher für Handelsunternehmen und Hedgefonds offen lässt und keine Kohlenstoffsteuer vorsieht. In ökologischer Hinsicht ist es zu wenig, zu spät, und die hohen Erwartungen beruhen auf einem unbewiesenen technologischen Optimismus – ein Versuch, eine grüne kapitalistische Industrie zu schaffen, anstatt den tiefgreifenden sozialen und ökologischen Strukturwandel einzuleiten, den insbesondere die US-Gesellschaft und -Wirtschaft durchlaufen muss, wenn die globale Multikrise nicht zum sozialem, ökonomischen, ökologischen und institutionell-demokratischen Kollaps führen soll (Hickel et al. (2022).
Klimasicherheit: Verbal von allen politischen Parteien unterstützt (mit Ausnahme der Klimaleugner auf der äußersten Rechten), aber aufgeschoben, bis die Energiesicherheit wiederhergestellt ist. Der Schwerpunkt liegt auf der Angebotssteuerung, nicht auf der Nachfragereduzierung, auf neuen alten Energiequellen statt auf dem Ausstieg aus energieintensiven Prozessen. Die von der EU geforderte Halbierung des Düngemitteleinsatzes und die damit verbundene Reduzierung energieintensiver Verfahren wie der Haber-Bosch-Synthese wäre ein überfälliger Schritt, doch die Reduktionsziele werden aktiv bekämpft.
Da sich die geplanten Investitionen aber erst über längere Zeiträume auszahlen, werden die Subventionen wohl länger als jetzt angegeben reichen. Dass damit das 1,5°-Klimabudget überschritten würde, wird nicht als akutes Problem wahrgenommen, sondern eher als eine kleine Verschiebung der noch beschworenen Lösung. Das bedeutet, dass ein Temperaturanstieg von 1,5° bis 2030, 2° vor 2050 und mindestens 3,5° später programmiert ist. Unter diesen Umständen erwarten Sozialwissenschaftler und Mediziner einen Zusammenbruch der Gesundheits- und Sozialsysteme und damit der westlichen Zivilisation.
Biologische Vielfalt: Anstatt biodiversitätsschädigende Praktiken zu beenden, setzen Planer und Unternehmen auf Offsets, d.h. sie verursachen Schäden und ergreifen Maßnahmen, die diese Schäden angeblich ausgleichen oder sogar zusätzliche Biodiversität schaffen. Im Gegensatz zu „naturbasierten Lösungen“, die sich auf die Erhaltung und Wiederherstellung der biologischen Vielfalt konzentrieren und den Klimaschutz und andere positive Auswirkungen als willkommene Nebeneffekte haben, sind solche Kompensationsmaßnahmen meist ausschließlich auf den Klimaschutz ausgerichtet und gehen zu Lasten anderer Ökosystemleistungen, die ein gesunder Lebensraum erbringen kann. Sie werden mit Euphemismen wie „kein Nettoverlust“ oder sogar „eine naturfreundliche Zukunft“ beschrieben, untermauert von neoklassischen ökonomischen Konzepten wie „Naturkapital“, „Naturvermögen“ oder „Bruttoökosystemprodukt“.
Eine Zeitenwende für die Gesundheit
In Kontinentaleuropa, wo die Zahl der Hitzetoten in heißen Sommern die des Straßenverkehrs übersteigt und in Deutschland 2018-2020 fast 20.000 Hitzetote zu beklagen sind (Winkelmayr et al. 2022), werden Pflegeheime klimatisiert werden müssen. Krankenhäuser haben oft nur in Operationssälen und Intensivstationen eine Klimatisierung, die überall benötigt wird.
Weltweit ist die Lebenserwartung aufgrund der Pandemie gesunken, in einer Reihe von Ländern jedoch bereits vor deren Ausbruch. Die erhöhte Sterblichkeitsrate ist auf allen Kontinenten zu beobachten; nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation wird der Klimawandel zwischen 2030 und 2050 etwa 250 000 zusätzliche Todesfälle pro Jahr verursachen. Auslöser sind Unterernährung, Malaria, Durchfallerkrankungen und Hitzestress. Bis 2030 muss mit jährlich 2 bis 4 Milliarden US-Dollar für die daraus resultierenden Gesundheitskosten gerechnet werden.
In den Unternehmen kommt es zu einer noch nie dagewesenen Zahl von Todesfällen unter den Arbeitnehmern. Die Fälle, in denen extreme Temperaturen zu Problemen am Arbeitsplatz führen, nehmen zu. Im Jahr 2019 stellte das Center for Public Integrity fest, dass der US Postal Service seit 2012 etwa 900 Arbeitnehmern Hitzestress ausgesetzt hat, der zu Muskelkrämpfen, Erbrechen und Bewusstlosigkeit führte. „Eine hohe Außentemperatur sowie eine erhöhte Körpertemperatur aufgrund schwerer körperlicher Arbeit können das Risiko hitzebedingter Krankheiten erhöhen, einschließlich Hitzeerschöpfung und Hitzschlag – beides kann tödlich sein. Auch akute Nierenschäden und traumatische Verletzungen können die Folge sein“, sagt June Spector, stellvertretende Vorsitzende des Lehrstuhls für Umwelt- und Arbeitsmedizin an der University of Washington und Mitverfasserin einer aktuellen Studie über die durch den Klimawandel verursachte Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Laut einer kürzlich in Nature veröffentlichten Studie wurden 37 Prozent der hitzebedingten Todesfälle im Sommer in den letzten drei Jahrzehnten mit dem vom Menschen verursachten Klimawandel in Verbindung gebracht, was einen Blutzoll in Millionenhöhe bedeutet¸ mehr als 2.000 Menschen starben im Sommer 2022 in Portugal und Spanien an der Hitze. Eine Studie hat gezeigt, dass die vom Menschen verursachte globale Erwärmung in den letzten zehn Jahren in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara jedes Jahr 7.000 bis 11.000 Kinder unter fünf Jahren getötet hat.
Die Zeitenwende als Ressourcenwende
Wenn das 1,5-Grad-Ziel noch erreicht werden soll, müssen Deutschland und andere reiche Länder in weniger als zwei Jahrzehnten klimaneutral werden. Die Unabhängigkeit von russischen Energielieferungen ist dabei nur der erste Schritt, der zu neuen Abhängigkeiten führen kann. Eine moderne Fotovoltaikanlage benötigt mehr als doppelt so viele metallische Rohstoffe wie ein Kohlekraftwerk gleicher Leistung. Bei Onshore-Windkraftanlagen ist es fast fünfmal so viel Metall, bei Offshore-Windkraftanlagen mehr als siebenmal so viel (IEA 2022). Eine Studie für die Deutsche Rohstoffagentur listet mehr als 20 kritische Metalle auf, von denen sich der Bedarf in knapp zwei Jahrzehnten vervielfachen dürfte, unter anderem für Elektrofahrzeuge, stationäre Stromspeicher, Meerwasserentsalzungsanlagen und große Elektrolyseanlagen zur Herstellung von grünem Wasserstoff (Marscheider-Weidemann et al. 2021). Deshalb muss eine massive Reduktion des Energieverbrauchs gelingen (Halbierung!) – nur dann sind die Erneuerbaren eine „Freiheitsenergie“ und nicht der Startschuss für neue Abhängigkeiten. Weder Klima- noch Artenschutz werden gelingen, wenn der globale Raubbau an Rohstoffen weitergeht.
Für Autos und andere Leichtbaukonstruktionen importiert die europäische Industrie Aluminium Al, Chrom Cr und Magnesium Mg. Große Exporteure sind China und Russland (größter Al-Lieferant), sowie Eisenerz und Stahl aus China, Brasilien, Australien und Indien. Für Katalysatoren (solange noch benötigt) Palladium Pd aus Südafrika und Platin Pt, beide ebenfalls aus Russland und China.
Für die Dekarbonisierung: Lithium Li aus Chile und Bolivien, Nickel Ni von den Philippinen und aus Indonesien, Phosphor P aus Kasachstan, Seltenerdmetalle aus China. Für Batterien benötigen wir Nickel Ni, Kobalt Co, Mangan Mn, Kupfer Cu aus Peru und Chile sowie Seltenerdmetalle aus China. Bei vielen Metallen ist China nicht der dominierende Produzent, was den Abbau angeht, aber es hat fast ein Monopol bei der Raffination dieser Metalle. Keines dieser Länder ist für einen umweltfreundlichen und die Menschenrechte achtenden Bergbausektor bekannt (Chardayre, Reckordt 2022).
Im Jahr 2020 importierte Deutschland Metalle für 3 Mrd. € aus Russland, insbesondere Pd, Ni, Cu, Al, Fe und Stahlveredelungsmetalle (rostfreier Stahl benötigt neben Eisenerz auch Chrom Cr, Mangan Mn und Molybdän Mo) (DERA 2022).
Das Zeitalter der billigen Metallimporte aus Niedriglohnländern geht jedoch zu Ende. Nicht nur die Lieferketten sind zunehmend anfällig, auch die verstärkte Kontrolle (vgl. die EU- und nationalen Rechtsvorschriften über Sozial- und Umweltstandards in der Lieferkette) und die steigenden Preise tragen dazu bei. Nicht nur, dass jede Strategie, die von einem unbegrenzten Zugang zu Metallressourcen ausgeht, zum Scheitern verurteilt ist, da die Lieferanten die Wahl haben, wen sie beliefern wollen und wen nicht. Der Zusammenbruch sicherer Lieferketten bedeutet auch das Ende des „Just-in-time“-Produktionsmodells und damit steigende Kosten für die Unternehmen (aber wahrscheinlich auch eine Verringerung der externen Schäden). Ein Geschäftsmann beschrieb es so: „Wir verlagern uns von just-in-time auf just-in-case“. Die Verringerung der Nachfrage durch weniger und kleinere Autos (das Gegenteil der Strategie der deutschen Autohersteller), die Umstellung des Modalsplits von LKWs auf Bahn und Schiff (solange die klimabedingte Wasserknappheit diese Option nicht ausschließt), das Verbot von Kurzstreckenflügen usw. sind nur einige der offensichtlichen Beispiele für die Verringerung der Nachfrage. Die Konzentration auf die Angebotsseite, wie sie in der Wirtschaftstheorie üblich ist, wird nur zu künftigen Katastrophen führen, wie z. B. die Untergrabung der Produktion von Meeresfrüchten und der ökologischen Integrität des Meeresbodens durch den Tiefseebergbau. Der Ressourcenverbrauch muss minimiert werden, nicht nur von den Verbrauchern, sondern vor allem von den Unternehmen.
Jegliche Hoffnung auf eine Beschaffung aus dem Recycling und der Kreislaufwirtschaft ist illusorisch, solange die Bestände noch aufgebaut werden, und ohnehin ist kein Recyclingverfahren zu 100 % effektiv – Kompromisse zwischen verschiedenen Stoffen in Mischmetallen sind unvermeidlich. Die Beschaffung in der Nähe ist sehr begrenzt; der deutsche und der größte Teil des europäischen Bergbaus produziert Sand, Kies, Steine und Industriemineralien wie Steinsalz und Quarzsand.
Sobald die Nachfrage das Angebot regelmäßig übersteigt, gelten die Grundannahmen der Marktwirtschaft nicht mehr: Wenn nicht genug für alle da ist, müssen neue Verteilungsmechanismen festgelegt werden. Nicht die Sektoren mit der höchsten Wertschöpfung und damit der höchsten Kaufkraft sollten den vorrangigen Zugang haben (wie die Autoindustrie während der Chip-Versorgungskrise zu ihrer Verzweiflung feststellen musste), sondern die Sicherung des Gemeinwohls durch die Einführung von Quotensystemen (wie es derzeit für Gas geschieht und von mehreren Wirtschaftszweigen gefordert wird).
Wie bei der Verlagerung von Klimaproblemen auf die Energiesicherheit liegt der Schwerpunkt der Ressourcenpolitik auf nationaler und EU-Ebene nicht auf der Verringerung der Nachfrage (obwohl dies in der Kreislaufwirtschaftspolitik in ferner Zukunft eine Rolle spielen wird), sondern auf der Sicherung des Zugangs der Industrie zu billigen Metallressourcen.
Wie immer gilt: Was in die Technosphäre geht, bleibt nicht dort. Abgesehen von der Tatsache, dass es nicht möglich ist, alle Metalle in Recyclingprozessen vollständig zurückzugewinnen, wirkt sich der Verschleiß von Metallgegenständen auch auf die Umwelt aus. So wurden in der Umgebung von Windkraftanlagen in der Nordsee erhöhte Konzentrationen von Aluminium, Zink, Indium, Gallium und Blei gefunden, die vom Korrosionsschutz der Anlagen stammen, der sich mit der Zeit selbst auflöst. Derzeit gelangen pro Jahr und Windkraftanlage 150 bis 750 kg dieser Anodenmaterialien in die Meeresumwelt (BSH, Hereon 2022).
Eine Zeitenwende für die Küste
Der Meeresspiegel steigt heute schneller als erwartet und so schnell wie seit mindestens 3.000 Jahren nicht mehr, da die Gebirgsgletscher und die grönländische Eiskappe schmelzen und sich die Ozeane aufgrund der Erwärmung ausdehnen. Schon ein Anstieg des Meeresspiegels um einige Meter wird die Weltkarte neu zeichnen, mit tiefgreifenden Folgen für Millionen von Menschen in Küstenstädten von New York City bis Shanghai. Der grönländische Eisschild, der einen Anstieg des Meeresspiegels um sieben Meter verursachen könnte, steht kurz vor einem Kipppunkt, nach dem ein beschleunigtes Abschmelzen unvermeidlich wäre, warnten Wissenschaftler im Jahr 2021. Ein Abschmelzen des westantarktischen Eisschilds (WAIS), einschließlich des so genannten „Weltuntergangsgletschers“ Thwaites, der seine Stabilität unwiderruflich verloren hat, würde zu einem weiteren Anstieg des Meeresspiegels um fünf Meter führen. Selbst der größte Eisschild der Welt, der ostantarktische Eisschild (EAIS), zeigt inzwischen Anzeichen von Verwundbarkeit. Wenn die globale Erwärmung nicht auf 2°C begrenzt wird, könnte sein Abschmelzen den Meeresspiegel um 52 Meter ansteigen lassen. Die Höhe der Kohlenstoffemissionen in den nächsten zwei Jahrzehnten wird den künftigen Anstieg des Meeresspiegels festschreiben.
Neben der potenziellen Überflutung bewohnter Gebiete wird bereits der innerhalb der nächsten Generation erwartete Anstieg des Meeresspiegels um mehr als 1 m nicht nur dazu führen, dass Salzwasser in unsere Grundwasserreservoirs eindringt, sondern auch wichtige Lebensräume bedrohen. Auch das Wattenmeer und die Salzwiesen entlang der Nordseeküste werden unter Druck geraten. Solange die Deiche nicht zurückverlegt werden, um eine Verlagerung ins Landesinnere zu verhindern, bleibt nur die Überflutung (Saintilan et al. 2022). Damit geht einer der biologisch vielfältigsten Lebensräume der Erde verloren und mit ihm der Lebensraum für >2000 Insektenarten und die wichtigste Nahrungsquelle für Millionen von Zugvögeln.
Die Zeitenwende im Handel, und die Wettbewerbsfähigkeit
Der globale Freihandel war und ist die Grundlage des deutschen Wohlstands – nicht zuletzt als Folge der ungleichen Austauschbeziehungen zwischen Nord und Süd. Bei dieser Ausrichtung profitierte Deutschland von den (relativ) billigen russischen Ressourcen Öl, Gas, Kohle, Metalle und Mineralien, die zu seiner globalen Wettbewerbsfähigkeit und seinem Exporterfolg beitrugen. Diese Grundvoraussetzung des deutschen Wirtschaftsmodells ist heute Schnee von gestern. Wir brauchen daher eine Neudefinition der bevorzugten Handelspartner, die sich nicht mehr nur an der kurzfristigen Rentabilität des Austausches orientiert, sondern auch die staatliche und soziale Verfassung der Handelspartner widerspiegelt (Horn 2022). Die Geschichte der Erde hat jedoch Rohstoffvorkommen verteilt, ohne darauf zu achten, ob sie in demokratischen oder autoritären Staaten angesiedelt sind. Da sich in Zeiten des Populismus der demokratische Status schnell ändern kann (wie unter Trump, Erdogan, Orban etc.), sollte der Fokus auf der EU liegen und versucht werden, mit den vorhandenen Ressourcen so viel wie möglich zu managen. Komplementäre Rohstoffe sollten von einem diversifizierten Netz zuverlässiger Vertragspartner bezogen werden, ohne sich von einzelnen Lieferanten oder Abnehmern (Ländern) abhängig zu machen. Dies ermöglicht auch die Abkehr von der imperialen Option – die Bundeswehr sichert heute Rohstoffversorgungsrouten, z.B. am Horn von Afrika.
Außenwirtschaftspolitik ist ohnehin längst zu einem Unterthema geopolitischer Machtpolitik geworden – oft unbemerkt von uns: Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung, darunter auch Europa, wurde unter Präsident Trump mit US-Wirtschaftssanktionen belegt. Der Weltmarkt ist nicht neoliberal, sondern neoimperial. Statt einer Blockbildung unter US-Führung muss die Eigenständigkeit der EU gestärkt werden.
Zeitenwende als Wende in Forschung und Technologie
Die Technologieentwicklung wird immer noch so betrieben, als ob alle Rohstoffe jederzeit in beliebiger Menge billig verfügbar wären, weil sie aus Ländern mit niedrigem Lohnniveau stammen. Das ist nicht der Fall und wird es auch nicht sein: Das Fenster für billige Rohstoffimporte schließt sich. Stattdessen werden die genannten Anwendungsbereiche um den Zugang zu strategischen Metallen konkurrieren und diejenigen, die zu kurz kommen, werden möglicherweise die Produktion einstellen – das sollte zumindest die Lehre aus der Chip-Versorgungskrise sein.
Was tun?
Die Notwendigkeit, den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen und den Energieverbrauch zu senken, ist unbestritten. Allerdings muss die Perspektive deutlich erweitert werden. Es geht nicht nur um die (noch schnellere) Steigerung der Energieeffizienz, sondern auch um die Reduzierung der Aktivitäten, die Energieverbrauch verursachen (vom Fliegen bis zur Wohnungsgröße). Und es geht ganz allgemein darum, (neue) Produkte zu kaufen, die einen höheren Produktions-, Energie- und Rohstoffverbrauch verursachen. Energieeinsparung führt also zu der Frage „Wie viel ist genug“? Vor allem im Verkehrssektor kann eine Umstellung auf weniger, kleinere und leichtere Autos die Ressourcenverschwendung beenden. Auch andere Sektoren brauchen spezifische und durchgesetzte Ziele.
- Eine umfassende Gesetzgebung für die Lieferkette erhöht die Widerstandsfähigkeit, da sie umso anfälliger ist, je weniger über die einzelnen Glieder der Kette bekannt ist. Dies bezieht sich nicht nur auf die Herkunft, die Zusammensetzung und den Preis von Rohstoffen und Zwischenprodukten, sondern auch auf die Art und Weise, wie die Menschenrechte und der Umweltschutz in der gesamten Lieferkette geachtet werden (Chardayre, Reckordt 2022).
- Alle Maßnahmen, die sich negativ auf die langfristigen Ziele auswirken, sollten unterlassen werden: keine allgemeinen Subventionen für Kraftstoffe, Mobilität, Strom, Heizung, Lebensmittel usw. – Preise sind Knappheitsindikatoren und müssen die Wahrheit sagen (Knappheit widerspiegeln, nicht Spekulation). Stattdessen müssen bedürftige, gefährdete Gruppen gezielt entlastet werden (d.h. höhere Nettoeinkommen ohne paternalistische Verzerrungen), und zur Verbesserung der Ernährungssicherheit sollte die Agrarökologie unterstützt werden, um die Nahrungsmittelproduktion von fossilen Brennstoffen zu entkoppeln, und der von der EU angestrebte Green Deal zur Umstellung auf einen geringeren Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden sollte beschleunigt und nicht verschoben werden. Die Nachhaltigkeitsziele werden durch das Wachstum des militärisch-industriellen Komplexes und die zunehmende Verschwendung von Ressourcen durch das Wettrüsten untergraben.
- In der Krise und in der Postwachstumsära ist eine wirksame und zielgerichtete Sozial- und Verteilungspolitik unverzichtbar, die Transformationslasten und -gewinne gerecht verteilt. Steuererhöhungen, insbesondere bei der Einkommensteuer, der progressiven Besteuerung und den Tarifen sind dafür unumgänglich. Es liegt auf der Hand, wie hilfreich eine Grundsicherung wäre, die allen Haushalten ein Mindestmaß an Energie, Wasser, Mobilität etc. garantiert, ohne auf Anpassungen der Transfers warten zu müssen. Arbeitszeitverkürzung statt Reallohnerhöhung (nach Ausgleich der Inflationsverluste zumindest für den Niedriglohnsektor) und eine Neubewertung und Wertschätzung von Care-Arbeit sind notwendig, um belastbare Beschäftigung zu schaffen. Durch den Ukraine-Krieg ist eine neue Notsituation entstanden, die es erneut notwendig macht, die Schuldenbremse auszusetzen – zeitlich befristet und mit einem Tilgungsplan, damit künftige Generationen nicht überfordert werden.
- Der Weg in die russische Gassknechtschaft war für einzelne Unternehmen vorteilhaft und rational. Da ihre Leistung an kurzfristigen Gewinnerwartungen gemessen wird, sind einzelne Unternehmensführer in ihrer Fähigkeit, Veränderungen zu unterstützen, erheblich eingeschränkt. Öffentliche Politik und Institutionen spielen daher eine entscheidende Rolle bei der Neuausrichtung des Unternehmensverhaltens. Das Defizit in der gesamtwirtschaftlichen Strategieplanung ist offensichtlich und spiegelt sich im Sektor der metallischen Rohstoffe wider. Die Globalisierung der deutschen und anderer europäischer Volkswirtschaften sollte auf ein „optimales“ Maß zurückgeführt werden, das Kostenvorteile und Risiken von Lieferkettenunterbrechungen nicht nur auf einzelwirtschaftlicher Basis bewertet. Re-Regionalisierung hat Kostennachteile, stärkt aber die europäische Wertschöpfung.
- Weitere Schritte zur Anpassung unserer Wirtschaftssysteme, um das Ende des BIP-Wachstums weniger destabilisierend zu gestalten, zielen darauf ab, die fiskalische Nachhaltigkeit zu sichern, indem neue Steuereinnahmequellen erschlossen werden, z. B. durch höhere Steuern auf Umweltverschmutzung, Ressourcennutzung, Unternehmenseinkommen und Eigentum oder Grund und Boden. Wenn jedoch die Gesamtwirtschaft schrumpft, kann eine Umstrukturierung der Steuerbasis nur eine Teilantwort sein – es müssen Wege gefunden werden, die Nachfrage nach Staatsausgaben zu verringern.
- Die Reduzierung des privaten Konsums durch Suffizienz (ein anderes Wort für sparsamen Überfluss) anstelle von Ressourcenverschwendung erfordert die Schaffung von Chancenräumen durch öffentliche Suffizienzpolitik. Eine ressourcenbewusste Wirtschaftspolitik sollte Ressourcenobergrenzen vorsehen, die das Entstehen neuer Geschäftsmodelle anregen würden, von Bibliotheken der Dinge und Reparaturzentren bis hin zu Genossenschaften und gemeinschaftsbasierten Start-ups,
- Die Chance besteht darin, dass heute ein Großteil der staatlichen Aktivitäten darauf ausgerichtet ist, die vom Wirtschaftssystem verursachten Risiken und Schäden zu korrigieren und auszugleichen (Asquith, Marinakis 2022). Dies zu verringern und die sozialen und sonstigen Anreize für unbezahlte Betreuungsarbeit zu verstärken, wird eine Notwendigkeit sein, die jedoch nur nachhaltig sein kann, wenn die derzeitigen Ungleichgewichte zwischen den Geschlechtern überwunden werden (Spangenberg, Lorek 2022; Spitzner, Spangenberg 2022).
Kurz gesagt: In einem Jahrzehnt, das von Klimakatastrophen, dem Verlust der biologischen Vielfalt, Pandemien, fragilen Energiemärkten und der Bedrohung der Lebensmittelversorgung geprägt ist, kommt es darauf an, dass die Energie-, Naturschutz-, Gesundheits-, Wasser- und Landwirtschaftssysteme eines Landes widerstandsfähig sind, um die Zivilgesellschaft und nicht zuletzt die Wirtschaft zu unterstützen. Die Sicherung des Gemeinwohls, ja sogar des bloßen Überlebens unserer Zivilisation, wird von ziemlich drastischen Umkehrungen der vorherrschenden Entwicklungspfade abhängen. Die derzeitigen politischen Bemühungen reichen dazu nicht aus – nur radikal ist jetzt realistisch. Wenn wir verstehen, dass das uns zur Verfügung stehende Klimabudget absolut gesehen begrenzt ist, sollten wir auch verstehen, dass jede Verzögerung in der Klimapolitik bedeutet, dass dieses Budget weiter aufgezehrt wird: Eine Verzögerung bedeutet eine Verschwendung der wertvollsten Ressource, die wir haben, nämlich Zeit. Jede Investition, ob öffentlich oder privat, muss heute auf ihre Auswirkungen auf das Klima und die biologische Vielfalt hin überprüft werden.
Moralisch erbärmlich und unerträglich sind die Kriegsprofiteure, die versuchen, ihre Konzepte, die zu Recht auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet sind, auf dem Feuer brennender Städte wieder aufzuwärmen. Atomenergie, Fracking, Braunkohleverstromung, Öl- und Gasbohrungen im Wattenmeer, LNG-Gasimport, Landwirtschaft auf geschützten Flächen und noch mehr Einsatz von Agrochemikalien sind nur die prominentesten Beispiele – es fehlt nur noch der weitere Autobahnbau für schnellere Truppenbewegungen. Denn das war ja ihr ursprünglicher Zweck (Spangenberg, Kurz 2022).
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