Kipppunkte im Klimasystem und Sicherheitspolitik
von Karl-Heinz Peil (18.4.2024)
„Sicherheitspolitik“ ist einer der fragwürdigsten Begriffe überhaupt. Faktisch steht dieser Begriff euphemistisch für eine irrsinnige Aufrüstung, die gewaltige Ressourcen verschlingt. Diese Ressourcen stehen dann nicht mehr als Staatsausgaben dafür zur Verfügung, wo dringender Handlungsbedarf für die existenzielle Sicherheit der Menschheit notwendig wäre. Einen Eindruck davon vermittelt eine Studie, die vom Auswärtigen Amt in Auftrag gegeben, von einem Autorenkollektiv der Climate Analytics GmbH in Berlin erstellt und im Januar 2024 als Abschlussbericht vom Umweltbundesamt vorgelegt wurde. Diese trägt den Titel: „Kipppunkte und kaskadische Kippdynamiken im Klimasystem – Erkenntnisse, Risiken sowie klima- und sicherheitspolitische Relevanz“.
Diese Studie reiht sich ein in die mittlerweile zahlreichen Studien, die sich mit den sicherheitspolitischen Konsequenzen der Klimakrise (bzw. der zu erwartenden Klimakatastrophe) befassen. Allerdings wird auch hier keine sicherheitspolitische Antwort gegeben, sondern lediglich im letzten Abschnitt des Berichts aufgezählt, welche Institutionen sich damit befassen sollten, angefangen von UN-Organisationen und -Unterstrukturen über die NATO bis hin zu G7 und G20.
Inhalt
Schlüsselbegriffe
Zu den verwendeten Begriffen im Titel heißt es in der Zusammenfassung der Studie:
Kippelemente sind überregionale bis globale Komponenten des Erd-Klimasystems, die potenziell nichtlinear auf den anthropogenen Klimawandel reagieren könnten. Bei Überschreiten wichtiger Schwellenwerte (Kipppunkte) gehen sie in wesentlich andere langfristige Zustände über, die in menschlichen Zeiträumen häufig unumkehrbar sind und positive Rückkopplungen (also sich selbst verstärkende Effekte im Erd-Klimasystem) nach sich ziehen können. Damit können potenziell die Grenzen der Anpassungsfähigkeit von Menschen und Umwelt erreicht oder überschritten werden. Neuere Forschungen zeigen, dass die aktuelle globale Erwärmung von ~ 1,2 °C gegenüber vorindustrieller Zeit bereits im Möglichkeitsbereich wichtiger Kipppunkte liegt und dass weitere Kipppunkte im Bereich von 1,5 bis 2 °C Erwärmung „möglich“ oder sogar „wahrscheinlich“ werden.
Diese Überschreitungen könnten zu kaskadischen Kippdynamiken auf globaler Ebene führen, welche eine Kettenreaktion weiterer Kipppunktüberschreitungen impliziert. Angesichts der dynamischen Wechselwirkung zwischen potenziellen Klimagefahren und sozioökonomischen Systemen ist es besonders wichtig, Kippdynamiken und ihre wahrscheinlichen Auswirkungen besser zu verstehen.
Zu den möglichen bzw. wahrscheinlichen Konsequenzen heißt es:
Die mitunter drastischen Folgen von Kippdynamiken könnten regionale Konflikte und Krisen fördern, wie die Eskalation von Ressourcenkonflikten durch den Verlust von Gletschern und Veränderungen des indischen Monsunregimes. […]
Das Überschreiten von Kipppunkten könnte auch sicherheitspolitische Konsequenzen haben. Daher gilt es, diese Risiken neben internationalen Klimaforen wie der Klimarahmenkonvention auch in anderen Gremien innerhalb der Vereinten Nationen, anderen multilateralen Foren wie den G7, G20, aber auch beispielsweise sicherheitspolitischer Bündnisse zu adressieren.
Übersicht der Elemente im Klimasystem
Als die wichtigsten Elemente des Klimasystems werden behandelt:
Kryosphäre, umfasst das globale Vorkommen von Wasser im festen eisförmigen Zustand, beinhaltend:
- Arktisches Meereis
- Grönländischer Eisschild
- Antarktischer Eisschild
- Gebirgsgletscher (außerhalb Grönlands und Antarktis)
- Permafrostböden
Atmosphäre und Ozeane; als dynamisches Zirkulationssystem mit Wärmeunterschieden und Drehmomenten, beinhaltend:
- Atlantische Umwälzzirkulation
- Korallenriffe
- El-Niño-Phänomen
- Indisches Monsunregime
- Jetstream
- Methan aus dem Meeresboden
Biosphäre und tropische Regenwälder
Besonders relevante Feedback-Kaskaden und Kippelemente ergeben sich demnach für:
- Grönländischer Eisschild und Atlantische Umwälzzirkulation
- Grönländischer und Westantarktischer Eisschild
- Westantarktischer Eisschild und Atlantische Umwälzzirkulation
- El-Niño-Phänomen und Amazonas Regenwald
- El-Niño-Phänomen und Korallenriffe
Rückwirkungen durch Kipppunkte
Zu den Rückwirkungen, die sich nicht nur für gesamte Ökosysteme, sondern gesellschaftlich ergeben, heißt es zunächst, dass sich durch Kipppunkte „unumkehrbare“ Entwicklungen ergeben, im Sinne von den für die Menschheit relevanten Zeitskalen.Für klimapolitische Zielsetzungen ergibt sich damit:
Die derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisse um das zunehmende Risiko eines Überschreitens von Kipppunkten im Klimasystem samt möglicher kaskadischer Kippdynamiken unterstreichen die Notwendigkeit für ein sofortiges, beispielloses, dringendes und ehrgeiziges klimapolitisches Handeln in diesem „kritischen Jahrzehnt“.
Globale politische Strategien explizit zum Umgang mit Kipprisiken existieren jedoch praktisch nicht. Zudem verbleiben kommunikative Herausforderungen bezüglich wissenschaftlicher Unsicherheiten und Wahrscheinlichkeiten. Politische Strategien zum Umgang mit Kipprisiken sollten daher im Angesicht großer verbleibender Wahrscheinlichkeitsbereiche eine Risikovermeidungs- und Vorsorgestrategie verfolgen. Ein Unterschätzen der Risiken ist dabei ebenso zu vermeiden wie „Weltuntergangsstimmung“ („doomism“). Wenn Entscheidungen im Kontext von Unsicherheiten getroffen werden müssen, wie dies bei Kipprisiken der Fall ist, können Prozesse nützlich sein, die kontinuierliches Monitoring, Bewertung und Lernprozesse ermöglichen. (OECD, 2022).
An Lösungsansätzen bietet die Studie allerdings recht wenig. Die atmosphärische CO2-Entnahme, die jetzt auch die Bundesregierung mit ihrer Carbon-Capture-Strategie auf den Weg bringen will, wird zu Recht von Wissenschaftlern und den allermeisten Umweltverbänden als inakzeptabel kritisiert, wegen den seit langem bekannten Risiken und Nebenwirkungen.
Migration, Konflikte und Handlungsforen
Inwieweit zunehmende Migrationsströme auf einzelne Ursachen wie Umweltveränderungen durch Klimawandel oder kriegerische Konflikte zurückgeführt werden können, ist umstritten. Dass die Zusammenhänge differenziert zu betrachten sind, da sie sich gegenseitig bedingen, wird auch in der Studie anerkannt.
Aufgrund der Risiken eines Überschreitens von Kipppunkten sind eine Vielzahl von möglichen Auswirkungen auf Gesellschaften zu beachten. Dabei sollten das Verständnis und mögliche Verbindungen etwa zwischen Klimawandel inklusive Kipppunkten, Sicherheit, Migration und Konflikten differenziert diskutiert werden.
Und weiter heißt es dazu:
Für die nächsten Jahrzehnte wird angenommen, dass sowohl gewaltsame Konflikte als auch Migrationsmuster eher von sozioökonomischen Bedingungen als direkt von Klimafolgen beeinflusst werden (IPCC, 2022a), wobei dabei aber natürlich indirekte Klimafolgen, z.B. für die ökonomische Entwicklung, beachtet werden müssen.
Ein Überschreiten von Kipppunkten könnte Einfluss auf Konflikte und Migrationsbewegungen haben. Wenn das Überschreiten von Kipppunkten große Migrationsbewegungen auslösen und gleichzeitig Zielorte betreffen würden, wären daraus resultierende Konfliktsituationen nicht auszuschließen (Flavell et al., 2020).
In der abschließenden Aufzählung der Organisationen und Institutionen wird auch die NATO mit Verweis auf das neue „Climate Change and Security Centre of Excellence“ genannt. Dieses wurde 2022 mit dem Standort Montreal (Kanada) beschlossen und ist seit Ende 2023 aktiv. Viel ist davon allerdings nicht zu erwarten, da die NATO als exklusives und konfrontatives Militärbündnis einem Konzept gemeinsamer globaler Sicherheit entgegensteht. Sicherheit vor den Auswirkungen des Klimawandels und den dadurch ausgelösten Kipppunkten kann nur nichtmilitärisch definiert werden.
Anhang: Weitere themenbezogene Beiträge
Auf dieser Homepage wurde dazu vom Autor bereits publiziert:
Klimawandel und Militarisierung | Folien und Texte zu einem Webinar | 8.4.2022
Das Pentagon und der Klimawandel | Klimarisikoanalyse des DoD | 22.10.2021
Alarmstufe Rot | Deutsche Fassung des englischsprachig verfassten Beitrags: IPCC-Reporting, Tipping Points and Global Security | 11.9.2021
Klimawandel auf der Sicherheitskonferenz | über einen Tagungsbericht des GIDS | 26.2.2023
Klimawandel und militärische Planungen | IMI-Analyse | 29.1.2020
Publikation an anderer Stelle:
Bagger oder Panzer? | Die Problematik der konkurrierenden Haushaltsmittel | Overton-Magazin | 14.4.2024